Das Bundesgesetzblatt informiert über das "Bundesverfassungsgesetz vom 26. Oktober 1955 über die Neutralität Österreichs".

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Du bist so jung wie deine Zuversicht, meinte Albert Schweitzer. Also jung? Oder doch alt? Na ja, geboren im gleichen Jahr wie "Mr. Bean" Rowan Atkinson, Rainhard Fendrich und Helge Schneider. Die sind doch nicht alt mit ihren 62. In dieser Riege gilt wohl die alte Weisheit von Udo Jürgens: Mit 66 Jahren fängt das Leben an.

Geboren wurde ich 1955. Lange, wirklich lange haben sich meine geistigen Eltern Zeit gelassen. Über meine Geburt haben viele nachgedacht, und das quer über den Globus. Der gesamten Staatenfamilie wurde meine Geburt dann mitgeteilt. Manche, wie's im Leben so ist, haben sich mit freundlicher Post gemeldet und andere es still zur Kenntnis genommen. Aber mit allen ist quasi ein Vertrag entstanden. Nämlich dass es mich gibt. Und dies gilt auch mit meinem heutigen Geburtstag noch. Mein Vorbild sollte damals die Schweiz sein, und meine Geburtsurkunde ist allgemein bekannt: das Bundesverfassungsgesetz über die immerwährende Neutralität vom 26. Oktober 1955.

Spielregeln

Ein ganz wesentlicher Beweggrund meiner Geburt war, dass sich Österreich nie wieder an Kriegen beteiligt. Konkret steht im Gesetz, Österreich wird "keinen militärischen Bündnissen beitreten und die Errichtung militärischer Stützpunkte fremder Staaten auf seinem Gebiete nicht zulassen". Klare Regeln, mit welchen Kindern ich was spielen kann und wer wie lange zu Besuch kommen darf. Für mich gilt: freundlich sein, die Schokolade teilen und sich am Sandhaufen an den richtigen Platz setzen. So findet man rasch viele Freunde. Und das schafft Sicherheit und Vertrauen.

Wie in jeder Jugend gibt's ein Auf und Ab. Die einen haben mich immer an der Hand, wenn sie in die weite Welt unterwegs sind. Helfen sollte ich, um zwischen Ost und West für Dialog zu sorgen. So kamen John F. Kennedy und Nikita Chruschtschow im Jahr 1961 nach Wien. Immer wieder wurde mein integrativer Charakter im Nahen Osten zu nützen versucht. Bruno Kreisky begegnete Yasser Arafat, und dieser war 1979 in Wien, als noch niemand sein Freund sein wollte.

Damit alles ein festes Fundament hat, konnten zahlreiche Institutionen in Wien angesiedelt werden. 1957 die Atomenergiebehörde (IAEA), 1965 die Oprec, 1967 die UN-Organisation für industrielle Entwicklung (Unido), und 1979 wurde die Uno-City in Wien-Kaisermühlen eröffnet. Die aus der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) hervorgegangene Organisation (OSZE) hat auch ihren Sitz in Wien. Nützlich war die Neutralität noch für so allerhand: Austausch mit den Blockfreien, Sitz im UN-Sicherheitsrat, Generalsekretäre in Uno und Europarat, Abrüstungsverhandlungen und Menschenrechtskonferenzen. Vielleicht für manches nicht ausschlaggebend, aber sicher nicht hinderlich. Viele nannten meinen Namen gemeinsam mit dem Begriff Friedenspolitik. Neutral zwischen Konfliktparteien bedeutet nicht – auch das muss gesagt sein –, die damaligen Kriegsparteien Iran und Irak beide mit Waffen zu beliefern.

Ansteckende Krankheiten

Rund um meinen 40er war ich in aller Munde: der Beitritt Österreichs zur damaligen EG und heutigen EU im Jahr 1995. Ein gelbes Pickerl mit blauer Taube war oft auf Laternenmasten zu sehen. "Mit 40 zu jung zum Sterben", stand darauf. Im EG-Vertrag von Maastricht 1992 war bereits zu lesen, dass die Entwicklung "zu gegebener Zeit zu einer gemeinsamen Verteidigung führen könnte". Deutlich war, dass so eine gemeinsame Verteidigung nicht nur mit dem Geist, sondern auch mit den Buchstaben des Neutralitätsgesetzes nicht vereinbar ist.

Einige in Österreich standen mir bei, manche duckten sich weg, und andere heizten das Feuer an. Ein Bundesparteitagsbeschluss der ÖVP aus dem Jahr 1997 für einen Nato-Beitritt hätte die gelben Pickerlpicker beinahe unfreiwillig zu Propheten machen können. Wie die Lipizzaner und die Mozartkugeln würde ich in der komplexen Wirklichkeit des 21. Jahrhunderts nicht mehr greifen, so das Argument. Allerdings war die Stimmung in der Bevölkerung für die Abschaffung der Neutralität ganz und gar nicht vorhanden. Und die Nato-Forderung wurde zum Schnee von gestern. Die Sozialdemokratie war auf EU-Ebene für das gesamte politische und militärische Spektrum zu gewinnen, nicht jedoch für eine Nato-Mitgliedschaft.

Kindergeburtstag ohne Strategie

Der EU-Vertrag von Amsterdam aus dem Jahr 1997 enthielt EU-Kampfeinsätze. In der Kindergruppe EU sitzen viele Kinder mit Helm, nämlich Nato-Mitglieder. Jene mit dem damals gelben Pickerl warnten, die Kinder mit Helm könnten die Neutralen in militärische Konflikte verwickeln. Es sollte genau in diesen späten 1990ern so weit kommen, dass EU-Kampfeinsätze auch ohne UN-Mandat nicht ausgeschlossen sein sollten (Artikel 23f B-VG). Neutralität und mögliche völkerrechtswidrige EU-Kampfeinsätze nebeneinander in ein und derselben Verfassung. Ähnliche Probleme hatten die neutralen und paktfreien Staaten Finnland, Schweden und Irland im Hinblick auf die Entwicklung der EU. Als einst beliebtes Kind hatte ich offenbar einen bunten Strauß ansteckender Krankheiten eingefangen, denn die Parteien im Parlament gingen allesamt auf spürbare Distanz. Ursache und zugleich auch Folge war die Absenz einer außenpolitischen Strategie.

Mit den Kindern mit Helm – den Nato-Staaten – wurde mir das Spielen ab Mitte der 1990er erlaubt. Im Wartezimmer des Militärpakts Nato – der Nato-Partnerschaft für den Frieden (PfP) – gab es für Österreich als PfP-Mitglied Kakao und Kuchen. Danach gab's die satte Rechnung für Speis und Trank. Der völkerrechtswidrige Nato-Krieg gegen Jugoslawien wurde von der EU als "notwendig und gerechtfertigt" bezeichnet, während just in dieser Zeit über 80 Prozent der Bevölkerung die Neutralität befürworteten. Unter der FPÖ-ÖVP-Regierung wurden die Nato und die militärische Beistandsverpflichtung der EU hochgehalten. Beides nicht neutralitätskompatibel. Die Neutralität – so FPÖ und ÖVP damals – widerspreche dem "Gerechtigkeitsgebot", und gute Dienste seien nicht mehr gefragt. Die Haltungsunterschiede zwischen den politischen Eliten und der Bevölkerung in Bezug auf das potenzielle Unvereinbarkeiten aufweisende Verhältnis von Neutralität und EU sollten sich als Konstante der letzten beiden Dekaden herausstellen.

Militäreinsätze

Rund um den Irak-Krieg der USA 2003 begannen auch die EU-Auslandseinsätze. Seit 2003 standen EU-Militärs im Kongo, EU-Militärs am Balkan, EU-Militärs im Tschad, EU-Militärs in Zentralafrika, EU-Militärs am Horn von Afrika. Alle mit Uno-Mandat und Einstimmigkeit aller EU-Staaten. Seit 2003 sagt die EU, dass ihre erste Verteidigungslinie oftmals im Ausland liegt. Das klingt nach Intervention und weniger nach aktiver Neutralität. Es geht das Schlagwort der Solidargemeinschaft EU um. Aber mit wem eigentlich solidarisch? Die einen meinen, Solidarität sei die Zärtlichkeit der Völker. Andere hingegen meinen mit Solidarität die Kumpanei der wirtschaftlich Reichen und militärisch Potenten.

Neben den EU-Militäreinsätzen kamen seit 2003 auch etwa zwei Dutzend zivile EU-Einsätze dazu. Teilweise Klein- und Kleinsteinsätze, teilweise Zivileinsätze sogar unter dem Kommando eines Militärs. Dennoch oder deshalb: 80 Prozent des Personals in allen EU-Einsätzen sind Militärs. Das neutrale Österreich hat sogar etwa 90 Prozent Militärs in EU-Einsätze entsandt.

Innehalten

Geburtstage sind auch Zeiten zum Innehalten. Wer bin ich? Wohin will ich? Sucht man im Parlament eine gemeinsame Klammer, so wird diese klein sein: neutral sein heißt, lediglich nicht Vollmitglied der Nato zu sein. Die Krux: Nato und EU sind heute mehr denn je kommunizierende Gefäße.

Der Wahlsieger der Nationalratswahl hat plakatiert, es ist Zeit für Neues. Warum also nicht noch mehr mithelfen, ehrlicher Makler und guter Platz für Friedensgespräche zu sein? Der Bedarf ist zweifellos gegeben. Warum nicht stärker die Fähigkeiten der Zivilgesellschaft zur Konfliktbearbeitung ausspielen? Sie haben internationale Erfahrung. Bei den erfolgreichen Verhandlungen über ein Atomwaffenverbot waren die Neutralen im Allgemeinen und Österreich im Besonderen ganz wichtig. Warum nicht weitere Abrüstungsprozesse gemeinsam initiieren? Waffen hat die Welt genug. Warum kurzatmig und hilflos hinter Konflikten herhecheln und nicht mehr in multilaterale zivile Krisenprävention stecken und damit Fluchtursachen beseitigen helfen? Ja, warum eigentlich nicht? (Thomas Roithner, 25.10.2017)