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100 Tage Einzelhaft: die Türkei-Direktorin von AI, Idil Eser.

Foto: AP / Amnesty International Turkey

Istanbul/Athen – Leute, die mit Leuten gesprochen haben sollen, die eine Mobiltelefonanwendung benutzt haben sollen, die wiederum für das Netzwerk des türkischen Predigers Fethullah Gülen geschrieben worden sein soll. Ein Entwurf für ein Anschreiben an eine Botschaft zur finanziellen Unterstützung eines Projekts zur Förderung der Gleichberechtigung von Frauen in der Türkei. Der Screenshot einer angeblich geplanten Kampagne für ein angebliches Mitglied der verbotenen kurdischen Untergrundbewegung PKK: Der Prozess, der am Mittwoch vor einer Strafkammer in Istanbul gegen elf Menschenrechtler beginnt, steht auf so wackligen Beinen, dass die Anwälte der Angeklagten gleich die Nichteröffnung eines Hauptverfahrens und die Freilassung ihrer Mandanten beantragen wollen.

Das wird nicht einfach sein, denn die Vorverurteilung ist schon ausgesprochen. "Agenten" hatte der türkische Staatschef Tayyip Erdoğan die Teilnehmer eines Workshops auf der Istanbuler Prinzeninsel Büyükada genannt. Seit mehr als 100 Tagen sitzen İdil Eser, die Türkei-Direktorin von Amnesty International, der schwedisch-iranische Menschenrechtler Ali Gharavi und sein deutscher Kollege Peter Steudtner deshalb in Untersuchungshaft. Unterstützung oder gar Mitgliedschaft in einer bewaffneten terroristischen Organisation werden ihnen vorgeworfen. Nur 17 Seiten lang ist die Anklageschrift der Staatsanwaltschaft.

Bei Steudtner, der bei dem Workshop in einem Hotel auf der Insel einen Vortrag hielt, fanden die türkischen Polizisten eine externe Festplatte mit Dateien zum Thema Datensicherheit. Das hat schon gereicht. Nach seiner Verhaftung im Juni änderte die deutsche Regierung ihre Türkei-Politik.

Gehackte Minister-E-Mails

Der Amnesty-Prozess im großen Istanbuler Justizpalast Çağlayan ist diese Woche nicht das einzige Verfahren, bei dem regierungskritisch eingestellte Personen vor den Richter kommen. Den Reigen eröffnen am Dienstag drei Journalisten, die sich wegen Berichten über die gehackten E-Mails von Erdoğans Schwiegersohn, Energieminister Berat Albayrak, verantworten müssen.

In einem anderen Gerichtssaal werden 13 Journalisten vorgeführt, die der Propaganda für den Prediger Fethullah Gülen angeklagt sind, darunter der Kolumnist und Sänger Atilla Taş. Am Donnerstag geht es mit ebenfalls 13 Journalisten und Publizisten weiter, die sich an der symbolischen, eintägigen Leitung der Redaktion der Tageszeitung "Özgür Gündem" beteiligt hatten. Die Zeitung ist bereits geschlossen worden, das Verfahren beginnt nächste Woche.

Aus der U-Haft kam am vergangenen Freitag der Grundschullehrer Semih Özakça. Er protestiert seit nun 226 Tagen mit einem Hungerstreik gegen seine Entlassung aus dem Staatsdienst, ebenso wie die Dozentin Nuriye Gülmen. Sie war zu schwach, um bei der Verhandlung zu erscheinen, und wurde vom Richter in der Haft gelassen. Nach der Verhaftung des Philanthropen Osman Kavala und des Leiters des AKP-nahen Thinktanks Orsam, Şaban Kardaş, wird nun ein größerer Schlag gegen die Zivilgesellschaft erwartet. (Markus Bernath, 23.10.2017)