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Proteste vor dem Gerichtsgebäude in Istanbul am Mittwoch.

Foto: REUTERS/Osman Orsal

Nach zehn Stunden Anhörung der Angeklagten findet es selbst Staatsanwalt Selahattin Kanbur schwierig, seine Konstruktion von Terror, Verschwörung und dringendem Handlungsbedarf noch aufrecht zu erhalten: Im Istanbuler Prozess gegen die Menschenrechtler beantragt er am Mittwochabend die Freilassung von zunächst sieben der acht in Untersuchungshaft gehaltenen Beschuldigten, darunter der Direktorin von Amnesty International (AI) in der Türkei, Idil Eser, und des deutschen Aktivisten Peter Steudtner. "Ich bin angeklagt wegen der Arbeit für Menschenrechte", hatte Idil Eser bei ihrer Anhörung festgestellt.

Kurz vor Mitternacht Ortszeit gibt der Richter seine Entscheidung bekannt: Alle acht noch inhaftierten Menschenrechtler kommen aus der U-Haft. Sie waren 113 Tage im Gefängnis.

Der Prozessbeginn war international verfolgt worden. Die deutsche Bundesregierung hatte nach der Festnahme von Steudtner ihre Türkeipolitik geändert und drängt seither auf Sanktionen gegen den EU-Beitrittskandidaten. Recherchen der Nachrichtenagentur Bloomberg zufolge versucht Berlin auch, die Türkei von ausländischen Kreditfinanzierungen bei der Europäischen Investitionsbank (EIB) und der Europäischen Bank für Wiederaufbau und Entwicklung (EBRD) abzuschneiden. Die türkische Lira gab am Mittwoch weiter nach und lag bei 4,45 für einen Euro.

"Geheimes Treffen"

Die zehn Menschenrechtler waren vergangenen Juli bei einem kleinen Workshop auf der Insel Büyükada vor Istanbul festgenommen worden. Steudtner und der schwedisch-iranische Aktivist Ali Gharavi waren dort als Vortragende zum Thema Datensicherheit engagiert. Idil Eser und sieben führende Vertreter anderer Menschenrechtsorganisationen in der Türkei waren die anderen Teilnehmer. Die Staatsanwaltschaft beschuldigt sie, ein "geheimes Treffen" organisiert zu haben und verschiedenen Terrororganisationen als Mitglied anzugehören. Das türkische Strafrecht sieht dafür Gefängnisstrafen zwischen siebeneinhalb und 15 Jahren vor.

Nach allgemeinen Dafürhalten in der EU und in Washington sind die Anschuldigungen gegenstandslos. Steudtners Anwalt bezeichnete die nur 17 Seiten lange Anklageschrift als einen "schlechten Roman". Die beiden ausländischen Angeklagten Steudtner und Ghavari kommen selbst nur in zwei Absätzen vor. "Ich fordere meine sofortige und bedingungslose Freilassung", sagte der 45-jährige Steudtner am Ende seiner auf Englisch vorgetragenen Erklärung.

Manipulierte Karte

Ein Teil der Anschuldigungen gegen ihn sei konstruiert, ein anderer Teil stehe in keinem Zusammenhang mit der Anklage, so erklärte der deutsche Menschenrechtler. Nichts davon schaffe eine Verbindung zum Terrorismus. Ghavari wiederum gab an, eine Karte, die auf seinem Computer gefunden und zum Anklagepunkt gemacht wurde, sei nachträglich verändert worden. Das Original zeige, dass es sich um eine linguistische Karte des Iran handle. "Ich habe keine Ahnung, was ich hier mache", sagte Ghavari dem Richter.

Acht der zehn auf Büyükada festgenommenen Menschenrechtler waren Mitte Juli wegen der "starken Belege" und der "Schwere des Verbrechens" offiziell in Untersuchungshaft genommen worden. Zwei wurden freigelassen.

Zwei bleiben im Gefängnis

Anders als die zehn Angeklagten des Workshops war AI-Präsident Kılıç bereits im Juni verhaftet worden. Ihm wird vorgeworfen, der Bewegung des Predigers Fethullah Gülen anzugehören, einem früheren politischen Verbündeten der Regierungspartei AKP. Kılıç' Fall wurde kurzerhand dem Strafverfahren gegen die Teilnehmer des Seminars angeschlossen. Der Grund ist nicht klar. Kılıç muss am Donnerstag wegen derselben Anschuldigungen erstmals vor einem Gericht in Izmir erscheinen.

Auch nach der Entlassung aus der Untersuchungshaft geht für die Angeklagten das Strafverfahren weiter. Die Freilassung ist an Auflagen gebunden wie die regelmäßige Meldung bei der Polizei. (Markus Bernath, 25.10.2017)