Bild nicht mehr verfügbar.

Alle linken Bewegungen, die sich die Zähmung oder gar Überwindung des kapitalistischen Wirtschaftssystems auf ihre Fahnen schreiben, hüten sich, die Revolution von 1917 als einen historischen Anknüpfungspunkt anzusehen.

Foto: Picturedesk

Ich weiß genau, wie ich als junger Post-68er der Russischen Revolution "verfallen" bin und Che oder Mao für mich Randfiguren geblieben sind. 1973, als ich Trotzkis dreibändige Geschichte der Russischen Revolution erwarb und begeistert las, war es nur schwer zu übersehen, dass es ungeachtet vager sozialistischer Ideale zugleich ein irritierendes Unbehagen an dem real existierenden Sozialismus gab.

Mein damaliger Held war die tragische Figur jenes (jüdischen) Intellektuellen, der es zum Befehlshaber der Roten Armee gebracht hat, Leo Trotzki, der heute in Putins Staat immerhin als russischer Staatsmann firmieren darf. Es war das Exil, das ihn zum Chronisten der maßgeblich von ihm in Gang gesetzten Oktoberrevolution werden ließ. Auf tausend Seiten beschreibt Trotzki die Geschichte einer Revolution, die kaum ein europäischer Marxist für möglich gehalten hatte, entsprach sie doch ganz und gar nicht der historischen Entwicklungslogik des Marxismus, der zufolge der Sozialismus unmöglich in einem so rückständigen Land wie Russland triumphieren konnte.

Nimmt man heute das Opus magnum zur Hand, so lässt sich sagen, dass der – doppelte – "Autor" der Russischen Revolution, an Marx' historischen Schriften geschult, ungeachtet seiner verlässlichen Parteinahme, ein versierter und differenzierter Schreiber ist: Weithin frei von persönlichem Ressentiment wendet er sich an ein Publikum, das über seine politische Klientel hinausgeht. Er ist einer der ersten Chronisten, der die Stadien der Russischen Revolution mit der narrativen Matrix der Französischen Revolution von 1789 bis zum Thermidor eng fließen lässt. Zu jenem wird der negative Umschlagspunkt der Russischen Revolution, die Willkürherrschaft Stalins.

Historische Zukunft

Anders als im frühen journalistischen Buch des Amerikaners John Reed (Zehn Tage, die die Welt erschütterten) steckt der Chronist in eigener Sache in einem tiefen Dilemma, hat sich doch der revolutionäre Elan des sowjetsozialistischen Regimes seines Widersachers Stalin zum Zeitpunkt seines türkischen Exils längst ins Gegenteil verkehrt: Stagnation und Unterdrückung. Der revolutionäre Chronist möchte die Errungenschaften der "wahrhaften Volksrevolution" gegen den Kontrahenten erinnerungspolitisch verteidigen und den Stalinismus als deren Pervertierung entlarven: "Die Oktoberrevolution hat das Fundament zu einer neuen Kultur gelegt, berechnet für alle, und gerade darum hat sie internationale Bedeutung. Sogar wenn das Sowjetregime infolge ungünstiger Umstände und feindlicher Schläge – nehmen wir das für einen Augenblick an – vorübergehend gestürzt werden sollte, der unauslöschliche Stempel der Oktoberumwälzung würde dennoch auf der ganzen weiteren Menschheitsentwicklung verbleiben." Die These von der paradigmatischen Bedeutung der Oktoberrevolution behielt für Jahrzehnte ihre Gültigkeit, auch für jene, die politisch nicht auf seiner Seite standen.

Als der schmählich verjagte Revolutionär die optimistischen Sätze schrieb, war bereits die Abkehr des Regimes von jener Moderne, die Trotzki, Kenner der Psychoanalyse wie der modernen Ästhetik, wie kaum ein anderer verkörperte, unübersehbar: Diesem emphatischen Modernismus wird er bis zu seinem Lebensende treu bleiben, etwa in seiner Zusammenarbeit mit André Breton und Diego Rivera. Bis zu seinem gewaltsamen Tod 1940 im mexikanischen Exil wird er zugleich daran festhalten, dass die Russische Revolution ungeachtet ihrer Verirrungen, mit all ihren Verbrechen seit Stalin, die historische Zukunft der Menschheit verkörpere.

"Antriebskraft erschöpft"

Es war ein Kommunist ganz anderen Schlags, der diese große historische Perspektive mit einem Federstrich beendete, der elegante sardische Führer der größten westeuropäischen Kommunistischen Partei, Enrico Berlinguer, der 1983, noch vor dem Zusammenbruch des post-stalinistischen Regimes in Russland und seinen Trabantenstaaten, verkündete, dass die Oktoberrevolution, ja das Sowjetmodell "seine Antriebskraft erschöpft hat".

Das bedeutet indes nicht mehr und nicht weniger, als dass die Analogie zwischen der Französischen und der Russischen Revolution storniert ist. Eine Renaissance, von großrussischer Melancholie über den Verlust des sowjetischen Imperiums abgesehen, ist nicht in Sicht. Alle linken Bewegungen, die sich zumindest die Zähmung oder gar die Überwindung des kapitalistischen Wirtschaftssystems auf ihre Fahnen schreiben, hüten sich, die Revolution von 1917 als einen historischen Anknüpfungspunkt anzusehen. Die "Expropriation der Expropriateure" ist auf Eis gelegt.

Daran vermag auch die Re-ecriture der literarisch durchaus gelungenen Geschichte der Russischen Revolution nichts zu ändern, die über die stupend genauen Details des Geschehens hinaus um die Legitimation der Revolution und eines Mannes kreist, ohne den Lenin es niemals geschafft hätte, mit seiner winzigen Truppe entschlossener Revolutionäre die Macht zu erringen. Diese Revolution wurde nicht zum Paradigma für die Entwicklung Europas, wohl aber zum Vorbild in Ländern, deren kapitalistische Ökonomie schwach entwickelt war – etwa China und Kuba.

Führer einer Weltrevolution

Skurril nehmen sie sich anno 2017 aus, die falsch-echten Erben von Lenin, die post-maoistischen Kapitalisten zu Peking, die stalinistische Dynastie in Pjöngjang, Castro II in Kuba und die kommunistischen Überbleibsel in Vietnam, Laos und Kambodscha, dem Land, in dem sich Stalins Gräueltaten noch einmal – anders – ereignet haben.

Was bedeutet es, Trotzki zu sein, der Führer einer Weltrevolution, die ihn schließlich, wie grotesk, so ähnlich exiliert wie zuvor der historische Feind, das Zarenreich? Über die eigene Revolution zu schreiben ist eine Selbstbehauptung, um die beiden Brüche zu verarbeiten, den heroischen, selbst herbeigeführten Bruch mit der Vergangenheit und den erlittenen Bruch, die Vertreibung aus der eigenen Zukunft. Trotzki muss und möchte an ihr festhalten, um nicht an ihr zu zerbrechen. Anders als die Weggefährten bietet das Exil einen Ort, um sich selbst zu bewahren, auch wenn der Anführer der Oktoberrevolution den Schergen des Mannes zum Opfer fällt, der sich vielsinnig als deren Schlächter bezeichnen lässt, der im Gefolge der bis heute unheimlichen Moskauer Prozesse alle seine Weggefährten zweifach hinrichtet, symbolisch (durch die erniedrigenden Geständnisse) und real. In diesem Sinne wiederholt sich der Terror der Französischen Revolution.

Die Figur des gebrochenen Revolutionärs haben zwei österreichische Schriftsteller beschrieben, der junge Manès Sperber (Charlatan und seine Zeit, 1924) und sein Landsmann Joseph Roth. Dessen Romanfragment Der stumme Prophet war in der posthum erschienenen Taschenbuchausgabe mit einem Bild Trotzkis auf dem Deckel illustriert. Wie bei Sperber wird auch bei Roth die Frage virulent, was seinen Protagonisten dazu verleitet "noch einmal für eine Sache zu leiden, von der er nicht mehr überzeugt war". Roths stummer Prophet Friedrich Kargan ist aus einem anderen Holz geschnitzt als der vertriebene Revolutionär, der ungeachtet seiner Vertreibung an seinen Idealen festhält, daran, dass er der eigentliche Kommunist ist, der am Ende Recht behalten wird. Kargan, ein Triestiner, ist wiederum der Mensch zwischen Melancholie und Zynismus, den die Revolution verlassen hat und der nie mehr zu Hause ankommen wird.

Ernüchterte Rückkehr

1926 reiste Roth, damals im Auftrag der linksliberalen Frankfurter Zeitung nach Sowjetrussland. Der skeptische Gefühlssozialist kam ernüchtert aus dem linken Musterland zurück. Wenn man bedenkt, dass es damals für einen Linken kaum opportun war, den neuen Sozialismus in Russland allzu scharf zu kritisieren, ist dieser Reisebericht durchaus bemerkenswert. Er malt ein skeptisches Bild der Lage der Juden, er verweist auf die zunehmende Unterdrückung, er prangert den heimlichen Kapitalismus des Systems (NEP) an. Zwischen den Zeilen und in unveröffentlichten Notizen macht er sich keine Illusionen mehr, in welche Richtung sich das Sowjetregime entwickeln wird. Die Zukunft, heißt es in Der stumme Prophet, gehört "Fußball und Flugzeug", nicht "Hammer und Sichel".

Von den unpublizierten Notaten zur Russland-Reise wissen wir auch, wer sein Informant gewesen ist, nämlich ein jüdisch-galizischer Landsmann, der einzige Altösterreicher im ZK der Bolschewiki: Karl Radek. Viel eher als Trotzki könnte dessen zeitweiliger Gefährte das Vorbild für den verlorenen Sohn der Revolution gewesen sein. Der politisch umtriebige Radek war es auch, der in seiner Rede über Leo Schlageter – dieser war für die Völkischen als Held im Kampf um das Rheinland gefallen – zum Strategen der Idee wurde, die Völkischen durch ideologisches Appeasement auf die Seite der Kommunistischen Partei zu ziehen. Dass er sich nicht ohne Druck und Gewalt Stalin unterwarf, hat sein Leben übrigens nicht retten können.

In einem magischen Akt

Roth hat aus der fehlgeschlagenen Revolution und dem sich ankündigenden Ende der Weimarer Republik einen anderen Schluss gezogen. Sein geistiges Exil wurde die retrospektive Utopie eines multiethnischen Kaiserstaates, den es so nie gegeben hat. Die Oktoberrevolution von 1917, historischer Widerhall von 1789, war der Archetyp sozialistischer Umwandlungen, die vornehmlich an der kapitalistischen Peripherie stattgefunden haben. Dass diese allesamt so schmählich endeten, hat auch damit zu tun, dass sich nachhaltiger gesellschaftlicher und kultureller Wandel nicht durch dramatische Gesten und Aktionen vollzieht. Die wirklichen Revolutionen kommen nicht aus den Gewehrläufen, sondern vollziehen sich leise, aber verlässlich medial, in den Familien und durch die Generationen durch Sozialpolitik. Dass wir nicht mehr an die Revolutionen glauben, die wie in einem magischen Akt alles plötzlich verändern, gehört zu jenen Enttäuschungen, die uns nicht lähmen brauchen, sondern auch ermuntern können. (Wolfgang Müller-Funk, 29.10.2017)