Nein, das wird jetzt kein #MeToo-Horrorerlebnis-Sammelaufsatz mit Laufbezug. Obwohl es männlichen Läufern regelmäßig die Sprache verschlägt, wenn Frauen erzählen, was ihnen auf Strecken und Routen unterkommt, auf denen unsereiner – also Männer – so viel Gefahr ortet wie beim Einräumen des Geschirrspülers: Plötzlich versteht man, wieso laufende Männer in wenig intensiv berannten Gegenden öfter zurücklächeln oder -grüßen oder von sich aus im Vorbeilaufen "Hi!" sagen als Frauen: Was für mich (aktiv wie wie passiv) eine unverbindliche Nettigkeit ist, wird von vielen Frauen anders erlebt, ganz anders.

Foto: Thomas Rottenberg

Ich habe über dieses Thema schon geschrieben. Vor Ewigkeiten. Ich weiß aber auch eines genau: Das Erlebnis mit umgekehrten Vorzeichen ein paar Wochen zuvor, das mich auf dieses Thema brachte, weil sich da eine (mutmaßlich) Irre völlig unvermittelt gegen mich zur Wehr zu setzen bemüßigt gefühlt hatte, ist die im Nachhinein grotesk-skurrile Ausnahme zu einer Geschichte, die in der "Normalversion" eben komplett anders läuft. Und so oft – und in zig Eskalationsstufen, mit denen ich als Mann nie auch nur im Entferntesten konfrontiert bin – vorkommt, dass ich den Satz einer Freundin hier als Erkenntnis wiedergebe: "Als Mann lebst – und läufst – du in einem Paralleluniversum."

Foto: Thomas Rottenberg

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Vergangene Woche war dieses "Paralleluniversum" in den sozialen Netzen wieder groß da: In Bottrop war eine Joggerin in einem Park von einer Gruppe Männer umzingelt und attackiert worden. Im ersten Posting blieben Details ausgespart. Prompt assoziierten fast alle das Gleiche wie ich – bis es jemand dann mit einem Nachrichtenlink extra klarstellte: Die Frau war "nur" krankenhausreif geprügelt worden – die Tat hatte, allem Anschein nach, keinen sexuell motivierten Hintergrund gehabt.

Nicht dass das irgendetwas entschuldbarer machen würde. Aber: Die Tatsache, dass das als "Besonderheit" oder "Abweichung von der Norm" auffiel, machte mich ein bisserl fassungslos. Und wütend. Auch weil deutsche Medien dann nur kurz ins Archiv schauen mussten, um von Muster und Serie zu schreiben.

Foto: Reuters/ Edgar Su

Auch die Reaktionen in den Gruppen und Foren im Netz waren verstörend. Nein, da blödelte, relativierte oder verharmloste niemand etwas.

Aber die Tatsache, dass Frauen hier mit einem fast selbstverständlichen Unterton feststellten, dass der öffentliche Raum eben an bestimmten Orten zu bestimmten Zeiten längst nicht mehr als ohne weiteres jederzeit besuch- und benutzbare Zone wahrgenommen wird, machte mich stutzig. Auch wenn man weiß, dass zwischen tatsächlichen und erlebten Gefährdungsräumen Welten liegen: Sagen Sie das einmal jemandem, der sich fürchtet – ohne diesem Menschen das Gefühl zu geben, dass man seine Angst lächerlich findet. Die ist nämlich real und da.

Foto: Screenshot Facebook

Ich bin da kein Auskenner. Im Gegensatz zu Franziska Tkavc. Die ist Kriminalbeamtin. Die Abteilungsinspektorin arbeitet auch abseits und neben ihrem Job mit Frauen und Mädchen zu genau diesem Themenfeld. Als Deeskalations-, Eigensicherungs- und Selbstverteidigungstrainerin. Außerdem ist sie selbst Läuferin. Darum überlasse ich Franziska einfach das Interview-Feld.

STANDARD: Muss ich mich als Frau beim Laufen (oder generell im öffentlichen Raum) fürchten oder in Acht nehmen?

Tkavc: Nein. Wie in vielen anderen Bereichen auch, steht die Aufmerksamkeit an oberster Stelle. Denn nur dadurch ist es einem möglich, bereits im Vorfeld zu agieren beziehungsweise adäquat reagieren zu können.

STANDARD: In deutsche Medien werden nun Vorsichtsmaßnahmen der deutschen Polizei an Frauen beim Laufen wiedergegeben. Decken die sich mit denen, die auch die heimische Exekutive gibt?

Tkavc: Ja. Zusätzlich kann auch schon vorab die Auseinandersetzung mit der individuellen Laufstrecke (zum Beispiel: Bin ich bis jetzt immer ganz zeitig in der Früh gelaufen, wo mir niemand begegnet ist? Befindet sich meine Laufstrecke in der Einöde?) sowie den eigenen Ängsten hilfreich sein. Die Überlegung, wohin ich im Notfall flüchten könnte oder ob es diverse "Sicherheitsinseln" auf dem Weg oder der Strecke gibt, kann im Vorhinein ebenfalls helfen.

Foto: Franziska Tkavc

STANDARD: Soll ich als Frau eine Waffe, eine Alarmsirene, einen Pfefferspray mit mir tragen?

Tkavc: Ein akustisches Handalarmgerät oder ein Pfefferspray kann in einer unangenehmen oder gefährlichen Situation unterstützen. Einen hundertprozentigen Schutz stellt das allerdings nicht dar. Wichtig ist, dass man sich im Vorfeld mit den Vor- und Nachteilen, der Handhabung und der Frage, ob diese Gerätschaft für einen selbst geeignet ist, auseinandersetzt.

Ein akustisches Handalarmgerät hat einen großen Vorteil: Das Gerät kann nicht gegen einen selbst als Waffe verwendet werden. Der Nachteil: Es macht nur dann Sinn, wenn es auch von anderen gehört werden kann. Durch den lauten Ton (mindestens 120–130 Dezibel) wird der Aggressor zwar auch abgelenkt – aber er muss vor allem befürchten, dass andere Personen aufmerksam werden.

Auch Pfefferspray hat Vor- und Nachteile: Bei richtiger Handhabung kann der Aggressor kurzzeitig außer Gefecht gesetzt oder beeinträchtigt werden. Der große Nachteil: Der Spray kann auch gegen einen selbst als Waffe eingesetzt werden.

STANDARD: Riskiere ich eine Anzeige, wenn ich einen Pfefferspray oder etwas anderes einsetze?

Tkavc: Wenn es zu einer Notwehrüberschreitung kommt, dann kann eine Anzeige auch gegen einen selbst gerichtet werden. Eine Anzeige selbst bedeutet aber nicht immer, dass es zu einer "Verurteilung" kommt, weil natürlich jegliche(r) Notwehrsituation/Sachverhalt geprüft wird.

STANDARD: Bin ich als "kleine" Frau überhaupt in der Lage, einen männlichen Angreifer abzuwehren?

Tkavc: Verteidigung ist keine Frage der Körpergröße, sondern unter anderem eine des richtigen Einsatzes von Selbstverteidigungstechniken. Die müssen jedoch immer und immer wieder geübt werden.

Foto: Franziska Tkavc

STANDARD: Soll ich versuchen zu kalmieren und freundlich sein oder sofort laut werden?

Tkavc: Das kommt auf die Situation und die eigene Persönlichkeit an. Die "gute Kinderstube" kann in einigen Situationen aber auch nicht immer hilfreich sein.

STANDARD: Wenn ich gerade noch einmal glimpflich davonkomme, wegrennen kann oder es sich "nur" um eine unangenehme Situation handelt: trotzdem Polizei?

Tkavc: Auf alle Fälle, da dadurch vielleicht andere Übergriffe verhindert werden können und durch vermehrte polizeiliche Streifen die Gegend unattraktiv für Übergriffe gemacht wird. Durch die eigene Aussage kann vielleicht auch eine andere Straftat aufgeklärt werden.

STANDARD: Was tun, wenn ich (auch als Mann) eine Situation sehe, die mir "seltsam" vorkommt?

Tkavc: Sich ein Bild von der Lage verschaffen – was ist geschehen, was geschieht gerade; wie viele Personen sind involviert, und dann die Polizei verständigen. Lieber einmal zu oft, als das eine Mal zu wenig …

STANDARD: Was tun, wenn mir (danach oder von Dritten) suggeriert wird, ich sei wegen Kleidung, Uhrzeit, Ort, Situation doch eh selbst schuld und mein Verhalten sei eine Einladung?

Tkavc: An solche Äußerungen darf man keinerlei Gedanken oder Energie verschwenden, denn der Täter ist immer allein für sein Verhalten verantwortlich!

Foto: Franziska Tkavc

STANDARD: Sollte ich zum Opfer eines Übergriffes werden, was tun?

Tkavc: Die Polizei sollte so schnell wie möglich verständigt werden. Etwaige Sofortmaßnahmen, Beweissicherung und Verständigungen werden von der Polizei durchgeführt. Die Erstversorgung erfolgt im Krankenhaus. Dieses nimmt Spuren ab und lagert sie. Den – nachvollziehbaren – Drang, sich und die Kleidung zu waschen, sollte man unbedingt unterdrücken: Eventuelle DNA-Spuren des Täters gehen ansonsten verloren. Wichtig ist auch, Hilfe und Beratung in Anspruch zu nehmen. Und da man vielleicht selbst nicht mehr in der Lage ist, alles zu bedenken, sollte eine Vertrauensperson hinzugezogen werden.

STANDARD: Kann ich sagen, dass ich nur mit einer weiblichen Beamtin sprechen will?

Tkavc: Ja, nach dem Gewaltschutzgesetz haben Frauen, die Opfer von Gewalt geworden sind, das Recht, durch eine Beamtin einvernommen zu werden.

STANDARD: Wo bekomme ich Infos, Zuspruch, Kurse, Beratung und Empowerment?

Tkavcs: Infos/Beratung: zum Beispiel beim Frauennotruf: 71 71 9; Kriminalprävention unter der Hotline: 0800/216346; Frauenberatungsstellen; allgemeine Opferschutzeinrichtungen. Bei Selbstverteidigungskursen gibt es viele Angebote. Darum ist es wichtig, sich über Programme und Kursleitung zu informieren, um das Passende für sich zu finden. Auswahlkriterien können zum Beispiel sein, ob der/die Vortragende staatlich geprüfter Trainer/-in ist, ob man sich in der Umgebung wohlfühlt oder – bei Vereinen – ob der Verein Mitglied eines offiziell anerkannten Fachverbandes ist. (Thomas Rottenberg, 1.11.2017)


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Foto: Franziska Tkavc