Die Paradise-Papers sorgen weltweit für Aufregung.

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Der Ökonom Andreas Peichl.

ZEW

Russisches Geld für Facebook, dubiose Transaktionen eines Vertrauten des kanadischen Premiers, Enthüllungen über die Geschäfte des US-Handelsministers: Die Paradise-Papers sorgen weltweit für Aufregung. Doch welche politischen Konsequenzen lassen sich aus den Veröffentlichungen ziehen? Der Verteilungsökonom und Finanzexperte Andreas Peichl forscht seit Jahren zu dem Thema.

STANDARD: Gibt es für Sie eine Lehre aus der Veröffentlichung der Paradise-Papers oder einen Auftrag an die Gesellschaft, an die Politik?

Peichl: Ein Auftrag an die Politik sollte sein, etwas gegen jene zu unternehmen, die Steuerparadiese und Steuerflucht ermöglichen. In den Unterlagen tauchen erneut eine Reihe von Oasen auf, in der Regel sind das kleinere Inseln, die außer Tourismus nicht viel zu bieten haben und für die es daher sehr lukrativ ist, Kapital aus dem Ausland mit niedrigen Steuersätzen anzulocken. Dieses Vorgehen schadet aber den großen Volkswirtschaften. Wir sollten etwas dagegen unternehmen.

STANDARD: Aber sind die großen Volkswirtschaften an diesem System nicht beteiligt? In den Leaks tauchen lauter Regionen und Inseln auf, die an große Finanzzentren angelehnt sind. Die City of London braucht doch Orte wie die Cayman Islands, um legale Steuervermeidungspraktiken anbieten zu können. Hongkong erfüllt diese Funktion für China, Delaware für die USA, Luxemburg für die EU. Die Großen müssen sich damit die Hände nicht schmutzig machen.

Peichl: Das ist ein guter Punkt. Zum einen gibt es Anreize im Steuerwettbewerb für einen einzelnen kleinen Staat wie Luxemburg, in der EU als Steueroase zu fungieren. Zum anderen bedarf es eines funktionierenden Finanz- und Rechtssystems, um eine Steueroase sein zu können. Sie könnten Ihr Geld, wenn Sie Steuern vermeiden wollen, auch nach Somalia schicken. Dann sehen Sie es aber nie wieder. Die Cayman Islands und die übrigen Inseln profitieren vom Zugang zum britischen Finanzsystem, vom britischen Rechtssystem, das sie verwenden, und sie stehen unter dem Schutz der Krone. Nur so können sie Rechtssicherheit garantieren. In europäischen Ländern spielt dieser Zugang auch eine Rolle. Ist man politisch eher konservativ, ist man eher für niedrigere Steuern, auch für Unternehmen. Im vielen Fällen lassen sich die Unternehmenssteuern aber nicht senken, weil das öffentlich auf Widerstand stoßen würde. Deshalb ist man zum Beispiel bei Steuerprüfungen lax.

STANDARD: Haben Sie ein Beispiel dafür?

Peichl: Für Deutschland gibt es Studien, die zeigen, dass eine Steuerprüfung in Bayern viel unwahrscheinlicher ist als zum Beispiel in Nordrhein-Westfalen oder Niedersachsen, also in traditionell SPD-regierten Ländern. Die CSU kann in Bayern die Abgaben für Unternehmen nicht senken. Aber die Steuerprüfungen sind Landessache, und da können sie sagen, wir schauen nicht so genau hin. Da sieht man, dass sich die Steuergerechtigkeit durch die Hintertür umgehen lässt. Aber insgesamt würde ich sagen, dass es inzwischen einen breiten öffentlichen Konsens gibt, dass man diese Praktiken abstellen sollte, auch in den allermeisten Parteien.

STANDARD: Warum ändert sich dann so wenig?

Peichl: Aus Sicht des Vereinigten Königreichs ist es heikel zu sagen: Es reicht, wir machen jetzt die Cayman Islands als Steueroase dicht. Solange man zu Hause mit dem Thema Steuergerechtigkeit nicht Wahlen gewinnen kann, wird sich niemand heranwagen. Die Finanzindustrie, das Finanzsystem, die Beratungsgesellschaften profitieren von solchen Geschäften, und das ist eine sehr, sehr starke Lobby. Die breite Masse hat in der Regel nie eine so erfolgreiche Lobbyarbeit wie einzelne Verbände.

STANDARD: Warum kann man damit keine Wahlen gewinnen? Die Paradise-Papers sind ja nicht der erste Leak, es gibt seit Jahren eine konstante Reihe von Enthüllungen.

Peichl: Ich glaube, zum einen, weil das Thema sehr kompliziert und schwer zu durchschauen ist. Man sieht das am Beispiel Deutschland im Zusammenhang mit den Cum-Ex-Geschäften. Das war ein großes Thema bei den Grünen, die haben das stark thematisiert. Die Stimmen, die sie bei den Wahlen dafür bekommen haben, kann man an ein paar Händen abzählen. (Der Cum-Ex-Fall gilt als größter Steuerskandal der deutschen Geschichte. Banken, Anwälte und Unternehmen waren beteiligt und haben sich illegal Steuererstattungen in Milliardenhöhe geholt, Anm.) Hinzu kommt, dass die Steuergesetze sehr kompliziert sind. Nur spezialisierte Juristen durchschauen sie, was die Debatte erschwert. Die Vertreter jener, die von den Steueroasen profitieren, finden also immer wieder gute Gründe zu sagen, warum diese und jene Verschärfung der Regeln schlecht für Unternehmen und für die Wirtschaft wäre.

STANDARD: Und stimmt das? Würde ein Ende der Steueroasen der Wirtschaft schaden?

Peichl: Nein. Es wird zwar immer wieder vorgebracht, dass Unternehmer weniger investieren würden, wenn sie ihre Steuern nicht mehr aggressiv optimieren könnten. Aber es gibt nur eine begrenzte Möglichkeit für Investitionen, und in den Industrieländern der OECD ist Kapital in der Regel immer noch am besten angelegt. Nachteile gebe es nur für Steueroasen.

STANDARD: Nun ließe sich gegen die ganze Aufregung einwenden, dass ja ein sehr großer Teil der Vorgänge völlig legal ist. Kann man es Unternehmen oder Privatpersonen wirklich vorwerfen, wenn sie ihre Steuerschuld optimieren?

Peichl: Um eine Briefkastenfirma auf den Caymans zu haben, entstehen ja einige Fixkosten. Man muss ein gewisses Vermögen oder Einkommen haben, damit sich das überhaupt lohnt. Das führt dazu, dass es sich nur die Superreichen leisten können, solche Konstruktionen zu wählen, weil man Anwälte und Steuerberater braucht. Die Vorgänge mögen also legal sein, sie sind aber moralisch mehr als fragwürdig, weil die Steuergerechtigkeit zerstört wird.

STANDARD: Wie?

Peichl: Wie kann man jemandem, der jeden Tag arbeitet und die Hälfte seines Einkommens an den Staat abgibt und so zum Gemeinwohl beiträgt, erklären, dass andere das Kapital für sich arbeiten lassen, den ganzen Tag Golf spielen, während sie zugleich nur einen Bruchteil ihres Einkommens versteuern müssen? Das trägt zur Politikverdrossenheit bei. Wir sehen ja in den vergangenen Jahren, dass das Thema Gerechtigkeit und Ungleichheit in den medialen Debatten sehr an Fahrt gewonnen hat. Ich denke, wir bekommen die politischen Auswirkungen dessen schon zu spüren. Wir haben bei einer Reihe von Wahlen einen Radikalisierungsprozess erlebt. Die FPÖ in Österreich, die AfD, Trump, der Brexit.

STANDARD: Das klingt alles sehr nach einem Spruch, der immer wieder in sozialen Medien herumgeht: Können sich die liberalen demokratischen Gesellschaften die Reichen noch leisten?

Peichl: Wenn die Bevölkerung zu der Überzeugung gelangt, da gibt es in der Tat eine Elite, die gefühlt über den Gesetzen steht, weil sie es sich leisten können, Leute zu beschäftigen, die für eine gewisse Auslegung der Gesetze sorgen, sodass sich diese Leute aus dem Solidarsystem verabschieden, ist der Zusammenhalt in der Gesellschaft in der Tat gefährdet. Die gesellschaftliche Relevanz dieser Problematik würde ich nicht unterschätzen.

STANDARD: Es gibt auch Kritik daran, dass hier Datensätze verwendet werden, die bei der Kanzlei Appleby gestohlen wurden. Ist es legitim, aus solchen Unterlagen zu zitieren?

Peichl: Das ist eine moralische Frage, die in jedem Einzelfall diskutiert werden muss: Ist es gerechtfertigt, eine Straftat zu begehen, um eine andere Straftat oder zumindest moralisch fragwürdiges Verhalten aufzudecken? Ich denke, in diesem Fall ist es gerechtfertigt, weil aufgezeigt wird, was für große Probleme wir haben und in welchem Ausmaß es Vermeidungsstrategien gibt. (András Szigetvari, 6.11.207)