Die Frage war ernst gemeint: Was ein Blinder davon habe, in New York einen Marathon zu laufen, lautete sie. Einer, der eh nichts sieht, könne 42,195 Kilometer doch auch in Hintertupfing abspulen. Die Frage war ein Posting. Auf Instagram. Zu einem Bild, das ich am Freitag gepostet hatte. Es zeigt Hans-Ewald Grill, Eric Rosant und mich im (noch) dunklen Central Park. Hinter uns ragt ein blaues Ding in die Höhe: der Zielbogen des NY-Marathons. Wir waren – wie hunderte andere Läuferinnen und Läufer auch – auf unserer Morgenrunde hierhergekommen, um uns das Ziel anzusehen. Der Plan war, dass zwei von uns hier am Sonntag wieder aufschlagen sollten. Sobald wir den New-York-Marathon absolviert haben würden – so wie mehr als 50.000 andere Läuferinnen und Läufer auch. Mit einem kleinen Zusatz: Hans-Ewald Grill ist blind. Rosant und ich würden den 66-Jährigen begleiten. Als "Begleitläufer".

Foto: Thomas Rottenberg

Geplant war das nicht: Eine Woche vor dem Lauf hatte mich Rosant angemailt. Er habe, schrieb er, ein Problem: Er laufe regelmäßig mit Grill. Den ehemaligen Paralympic-Athleten bei der Erfüllung seines vermutlich letzten großen Läufertraums, dem NY-Marathon, zu unterstützen sei Ehren- und Herzenssache. Nur mache ihm da ausgerechnet jetzt eine Herzmuskelentzündung einen Strich durch die Rechnung: Marathon sei nicht. Aber dass der Traum des 66-Jährigen daran scheitern solle, könne und dürfe nicht sein. Ob ich vielleicht eine Idee hätte? Oder jemanden kennen würde, der … und so weiter.

Mit Ideen oder Ersatzleuten konnte ich nicht dienen. Aber mein Wochenende war noch unverplant. Ich bin – 2014 – schon in New York gelaufen. Ein absoluter Gänsehautlauf. Ein schwieriger, aber umso schönerer Marathon. Eine Legende. Mühsam, aber jeden Tropfen Schweiß und jeden Fluch unterwegs wert. Und auch jeden Cent: Dieser Traum darf nicht scheitern. Nicht wenn es sich irgendwie verhindern lässt. "Weißt du was", schrieb ich Rosant, "ich mache es: Wir kriegen das schon hin."

Foto: Thomas Rottenberg

Bevor jetzt die hier leider unvermeidliche Neiddebatte ausbricht: Ich habe mir den Trip selbst bezahlt. Voll. Den Flug sowieso. Im Hotel schichtete Andreas Perer, der Kopf des österreichischen Marathonreise-Platzhirschen Runners Unlimited, dann ein paar Mitarbeiter und Betreuer seiner seit Monaten mit gut 130 Teilnehmern restlos ausgebuchten Reise nach New York so um, dass ich doch noch einen, vom Hotel natürlich verrechneten, Platz in einem der Zimmer bekam. Diesen Preis gab Perer mir eins zu eins weiter – und ließ mich bei Transfers und Co halt mitlaufen. Verdienen würde an dem Trip also keiner etwas. Aber darum ging es auch nicht: Es ging darum, Hans-Ewald Grills Traum nicht verpuffen zu lassen.

Foto: Susanna Huber

Eines war da freilich noch zu klären: die Sache mit dem Startplatz. New York ist einer der begehrtesten Läufe überhaupt. Startplätze sind teuer – und de facto Monate vorab restlos weg: Man kann sich entweder durch sehr gute Zeiten qualifizieren. Oder in der Startplatzlotterie Glück haben (die Chancen sind minimal). Oder man bringt rund 5000 Dollar an Spenden mit. Oder kauft einen der streng kontingentierten Startplätze, die internationalen Reisebüros zur Verfügung gestellt werden. Ich hatte – logo – nichts von alledem. Und wer je mit der US-Bürokratie auch bei Laufevents zu tun hatte, weiß, dass die Amerikaner da alles andere als leichtfüßig unterwegs sind.

Andererseits war Eric Rosant ganz offiziell als Begleitläufer von Grill angemeldet: Wenn er aus gesundheitlichen Gründen ausfiele, würde man den Wechsel doch irgendwie erklären können. Hoffentlich.

Foto: Thomas Rottenberg

Wir hatten uns verschätzt. Und zwar ganz gewaltig – allerdings in die falsche Richtung: Wenn es um Inklusion und das Wegräumen von Hindernissen im Leben von Behinderten geht, rennt man in den USA offene Türen ein: Einspringen sei, hieß es seitens der Marathonveranstalter und der Behinderten-Lauf-Empowerment-Organisation Achilles, überhaupt kein Problem. Um das formal und formell abzuwickeln, sei die Zeit zwar zu knapp. Wir sollten einfach bei der Startnummernabholung am eigens für AWD ("Athletes with disabilities") eingerichteten Servicestand vorbeikommen: Dort wäre dann schon alles vorbereitet. Ich war skeptisch – aber: wir hatten ja keinen Plan B.

Foto: Thomas Rottenberg

Vielleicht sollte ich an dieser Stelle ein wenig mehr über Hans-Ewald Grill erzählen. Grill ist 66 Jahre alt und mittlerweile in Pension. Er war nicht immer blind. Mit 13 Jahren tat er das, was in seiner Heimat – dem Salzkammergut – damals viele Buben in ihrer Freizeit taten: Er spielte mit Munitionsrückständen aus dem Zweiten Weltkrieg. Als er eine aus dem See heraufgeholte Flakgranate aufsägen wollte, explodierte das in den Schraubstock im Keller der Elter eingespannte Geschoß. Das kostete Grill mehrere Finger und den Sehsinn: Er ist praktisch blind, auch wenn er Objekte schemenhaft erkennen kann, wenn sie nicht weiter als eineinhalb Meter entfernt sind. Danach verschwimmt aber alles.

Nur – und das war auch Grills Antwort auf die Frage zum Insta-Foto – ist das Leben mehr als eine Abfolge von Bildern. Wahrnehmung und Erleben finden auf 1001 Arten statt. Und so kitschig es klingt, von der Intensität, mit der Hans Ewald Grill reist, lebt und sich mit seiner Umgebung auseinandersetzt, könnten sich andere einiges abschneiden: Grill war auf dem Großglockner und dem Mont Blanc. Er war von 1976 bis 1994 fixer Bestandteil aller österreichischen Paralympics-Teams und trat – unter anderem – im Diskus- und Speerwurf, Langlaufen, Biathlon oder über Mitteldistanzen im Laufen an. Er hat knapp 20 Marathons absolviert. Für den schnellsten brauchte er zwei Stunden und 53 Minuten. Das schaffen 85 Prozent der Sehenden (mich eingeschlossen) nie und nimmer. Diese Bestzeit lief er übrigens in Rom. Auch wenn Instagram-Fragesteller Behinderte lieber in Hintertupfing laufen sehen.

Foto: Thomas Rottenberg

Mit einem Blinden zu reisen ist auch für Sehende spannend. Weil man als Begleiter dann Bilder erzählt: den Blick auf die Skyline von Manhattan von der Queensborough Bridge. Die Eichkätzchen im Central Park. Oder Ground Zero: Wer das Unbeschreibliche in Worte zu fassen versucht, kann sich nur schwer mit oberflächlichen Floskeln gegen Emotionen wappnen. Und wenn ein Blinder mit den Fingern über die hier eingravierten Namen der Toten aus den Twin Towers streicht und ein paar der Namen vorliest, wird die Hintertupfing-Anmerkung vollends zu einem Armutszeugnis für den Fragesteller. Weil der wohl nie versucht hat, die Welt mit anderen als seinen eigenen Augen (sic!) zu sehen. "Schreib ihm, dass er sich die Augen verbinden soll, und dann soll er abwarten, was er in zehn Minuten alles wahrnimmt. Dann reden wir noch einmal."

Foto: Thomas Rottenberg

Ich reite nicht ohne Grund auf der Insta-Frage herum. Sie passt nämlich zu jenem Bild und Umfeld, das Behinderte in Österreich in vielen Situationen immer noch umgibt: Was sich Nichtbehinderte nicht vorstellen können, trauen sie Behinderten nicht zu – und schließen sie davon aus. Natürlich nur zum Schutz der Behinderten.

Laufveranstaltungen sind da ein schönes Beispiel: Der Vienna-City-Marathon sträubt sich beispielsweise immer noch mit Händen und Füßen dagegen, Rollstuhlfahrer zuzulassen. Offiziell aus Sicherheits- oder Versicherungsgründen. Dass auch Läufer stets auf eigene Verantwortung laufen und auf der praktisch gleichen Strecke beim Wings-for-Life-Worldrun Behinderte mit Rollstühlen, auf Krücken oder mit Begleitläufern ohne Probleme, Un- oder Zwischenfälle ganz selbstverständlich mit dabei sind? Egal. Diese Form massiver Diskriminierung wird von der den Citylauf hofierenden und fördernden Stadtpolitik aber wohlweislich ausgeblendet. Und niemand fragt nach.

Foto: Thomas Rottenberg

Vielleicht ja auch, weil es in Österreich keine Organisation wie Achilles gibt. In den USA (nicht nur beim New Yorker Marathon) ist diese Plattform aus dem Sportalltag nicht mehr wegzudenken. Achilles kümmert sich darum, dass Behinderte mitlaufen (oder eben mitrollen) dürfen. Achilles sorgt für die dafür nötigen Rahmenbedingungen. Sei es durch das Suchen und Koordinieren von Freiwilligen, Betreuern und Begleitern, sei es durch die Schaffung und Bereitstellung (gemeinsam mit den Veranstaltern) von Strukturen, die es Behinderten leichter machen, tatsächlich ein Teil von großen Läufen zu sein.

Beim NY-Marathon errichtete der Marathonveranstalter ein eigenes Starter-Village für alle AWDs und ihre Betreuer und Betreuerinnen. Alltagsrollstühle wurden, falls gewünscht, mit einem eigenen Shuttle vom Start zum Ziel gebracht.

Foto: Thomas Rottenberg

Beim Start selbst wurden die AWDs nicht irgendwo hinten "verräumt", sondern demonstrativ und in Gruppen in vordere Wellen und Blöcke gestellt. Als Störung empfand das niemand. Ganz im Gegenteil: Während man in Österreich Behinderte bei "normalen" Sportevents im besten Fall duldet, sind die Veranstalter in den USA stolz darauf, diese Offenheit demonstrativ zu leben. Das funktioniert: Die "normalen" Läufer (aber auch alle Polizisten, Soldaten und Zuschauer) applaudierten und feierten die an ihnen vorbei zum Start ziehenden Gruppen geradezu euphorisch.

Dass das so gar nicht dem Bild entspricht, das wir aus Österreich gewohnt sind, irritierte die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Empowerment-Organisation Achilles ebenso wie die Marathonmacher: "Das ist jetzt aber nicht dein Ernst, oder?"

Foto: Thomas Rottenberg

Diese Haltung spürt man dann auch auf der Strecke und vom Start weg. Heuer waren über 300 "Athletes with disabilities" im Village angemeldet. Wie viele Behinderte sich ohne spezielle Akkreditierung zusätzlich unter den 50.000 Teilnehmerinnen und Teilnehmern des Laufes befanden, lässt sich kaum sagen: Nichtdiskriminierung bedeutet ja auch, dass man nicht gezwungen wird, sich zu deklarieren. Dennoch: Die 300 "offiziellen" AWDs waren mit ihren geschätzt 700 oder 800 Guides (meist in gelben Achilles-Shirts) ein deutliches, nicht zu übersehendes Zeichen dafür, dass es keine Hexerei ist, auch beim größten Marathon der Welt Behinderte ganz regulär auf die Strecke zu schicken.

Foto: Thomas Rottenberg

Hans-Ewald und ich waren hier nicht als reines Zweierteam unterwegs. Eric hatte nämlich beschlossen, das Startverbot zu relativieren und zwei Stunden im allerlockersten Trab mit uns mitzulaufen. Der Arzt hatte zähneknirschend zugestimmt. Außerdem war Erin, Polizistin beim NYPD, vierfache NY-Marathon-Finisherin und angehende Triathletin, bei uns: Bevor sicher gewesen war, dass ich mitlaufen können würde, hatten Hans-Ewalds Freunde via Facebook nach einem Notfall-Guide gesucht. Erin hatte sich sofort gemeldet – und war trotz der Warnung, dass wir vermutlich einen Sechsstundenlauf hinlegen würden, nicht von ihrem Plan, uns zu unterstützen, abgewichen.

Foto: Thomas Rottenberg

Freilich: Nach etwa drei Kilometern, also kurz nach dem Überqueren der Verrazano Bridge, die Staten Island mit Brooklyn verbindet, war sie heftig hustend zurückgefallen. "Keep on running, I'll be right back", war das Letzte, was wir von "Supergirl" ("das ist mein Spitzname beim NYPD") hörten: Andere aus unserer Reisegruppe sahen sie viel später, extrem langsam, weit hinter uns und schwer kämpfend, Richtung Ziel laufen. "No bad feelings": Solche Tage gibt es im Leben jedes Läufers und jeder Läuferin.

Foto: Thomas Rottenberg

Unsere Strategie war einfach: Eric sollte Hans-Ewald die ersten zwei Stunden "guiden" – also neben ihm laufen und Hindernisse und Besonderheiten auf dem Weg ansagen. Die kurze Gummileine zwischen den Ellenbögen von Guide und Geführtem hat ja nur den Zweck, anzudeuten, wenn der Blinde zu sehr von der Spur des Guides abweicht: Man zerrt niemanden am Strick hinter sich her – schon gar keinen Blinden. Das wäre die sicherste Methode, ihn zu Fall zu bringen.

Mein Job wäre es gewesen, knapp vor Hans Ewald zu laufen. Quasi als unscharfer, aber doch erkennbarer Lotsenfisch, der die Spur vorzeichnet. Außerdem war ich für die Getränkeversorgung zuständig.

Foto: Thomas Rottenberg

Wir waren in der ersten Welle im zweiten Block gestartet. Beim NY-Marathon startet man in mehreren Wellen – und jede Welle ist in etliche Corrals, also Blöcke, aufgeteilt. Dass langsamere Läufer da regelmäßig von den flotteren Läufern anderer Corrals und Wellen eingeholt werden, ist bei 50.000 Menschen unvermeidlich.

Auch wenn die Überholenden an sich rücksichtsvoll und angesichts der Guide-Shirts gleich doppelt aufmerksam sind, ist es für einen Blinden nicht angenehm, nicht zu wissen, was hinter ihm passiert. Eng überholt zu werden ist für jemanden, der nur etwas mehr als einen Meter weit sieht, der Horror. Deshalb hatte ich bald einen anderen Job: Hans-Ewalds Rücken und linke Flanke frei halten. Mit ausgefahrenen Ellbögen oder seitlich weggestreckten Armen zu laufen ist auf Dauer anstrengend – auch wenn man zu 100 Prozent sicher sein kann, dass keiner "meinen" Blinden absichtlich über den Haufen rennen oder schneiden will: Eine kleine Unachtsamkeit kann schon genügen.

Foto: Thomas Rottenberg

Aber es gab auch ruhige, entspannte Passagen. Und Hans-Ewald strahlte sowieso in einem durch. Er genoss die Stimmung, die permanente Party am Straßenrand, die aufmunternden Zurufe ("Great job!", "Go, Achilles!"). Eric strahlte ebenfalls: Auch wenn er dieses Rennen nicht im Ziel beenden würde, war er doch mit dabei. Lief New York.

Ich strahlte mit und kam aus dem Schauen nicht raus: Bei meinem ersten Mal beim New-York-Marathon hatten mich vor allem Stadt und Kulisse interessiert und beeindruckt. Diesmal hatte ich einen anderen Fokus: zu wissen, dass vieles geht, wenn man will, ist das eine. Es mit eigenen Augen zu sehen, das andere.

Foto: Thomas Rottenberg

Nach exakt zwei Stunden, knapp vor dem 20. Kilometer, stieg Eric dann aus. Schweren Herzens, aber eben doch: Gesundheit geht vor. Immer.

Zuvor, während der engen Passagen, hatte ich mir kurz Gedanken darüber gemacht, wie das ohne Eric und Erin wohl mit der "Rückendeckung" sein würde. Aber noch bevor Eric ausstieg, war Therese aufgetaucht. "Do you mind if I run with you for some miles?" Therese war eine der Guide-Läuferinnen einer größeren norwegischen Gruppe, die uns kurz nach dem Start überholt hatte. Therese war zurückgefallen und wollte nicht ohne Aufgabe laufen. Unser Tempo passte für die Frau, die in Oslo als Übersetzerin mit gehörlosen Blinden arbeitet – und wir verstanden uns auf Anhieb.

Jetzt, wo Eric draußen war, übernahm sie den Job, den zuvor ich gemacht hatte: Rücken freihalten, breitmachen, denen, die Hans-Ewald anfeuerten, ihm applaudierten oder "Go, Achilles!" riefen, zu danken – oder mit ihnen kurz zu plaudern. Hans-Ewald und ich waren heilfroh, dass Therese bei uns war.

Foto: Thomas Rottenberg

Dann, nach 25 Kilometern, traute ich meinen Augen nicht: Als ich zurück schaute, war da ein bekanntes Gesicht neben Hans. "Tom, is this really you?" – "Hi Kathrine!" Tatsächlich: Das war Kathrine Switzer – jene Frau, die vor 50 Jahren in Boston als erste Frau mit einer Startnummer gelaufen war. Die Geschichte, wie Rennleiter Jock Semple sie vor den Fotografen aus dem Rennen rempeln wollte und dafür von Switzers Freund in den Straßengraben befördert wurde, gehört zu den zentralen Momenten der Frauen-, Sport-, aber auch Antidiskriminierungsgeschichte.

Hans-Ewald Grill weiß natürlich, wer Kathrine Switzer ist. Dass es aber tatsächlich sie war, die ihm da kurz vor dem Überqueren der Queensborough Bridge gratulierte und ihm – und allen anderen ringsum – zurief, dass man sich nie nie nie von anderen kleinkriegen oder kleinmachen lassen dürfe, glaubte er erst, als ich es ihm "bei meinen Dreadlocks" schwor.

Foto: Thomas Rottenberg

Die Queensborough Bridge führt von Queens nach Manhattan. Dort geht es dann von Kilometer 26 bis Kilometer 32 über sechs endlose, schnurgerade Kilometer fast durchgehend sanft bergauf. Die nächste Brücke führt dann in die Bronx.

Spätestens hier ist der Marathon kein Spaziergang mehr: Hans-Ewald ist 66 Jahre alt. Das vergisst man rasch, wenn man mit ihm unterwegs ist, wenn er seine Geschichte oder von seinen Plänen und Träumen erzählt: Er ist (nur zum Beispiel) seit kurzem Blindenstaatsmeister im Klettern. Nicht in seiner Altersgruppe, sondern generell – auch wenn er selbst lacht, dass die Zahl der Konkurrenten bei den Meisterschaften überschaubar war: Das ist nicht nix.

Trotzdem: Ein 66-Jähriger steckt 30 Kilometer Dauerlauf nicht mehr so locker weg wie ein 30-Jähriger. Auch wenn Hans-Ewald sich nichts anmerken lassen wollte: Er wurde langsamer. Redete weniger. Lachte kaum mehr – und hielt die Spur nicht mehr präzise. Speziell bei den Brückenanstiegen merkte ich, dass die Batterien fast leer waren.

Foto: Thomas Rottenberg

In der Bronx, etwa bei Kilometer 35, kam dann der erste Krampf. Mit einer Portion Magnesium und Dehnen bekamen wir den in den Griff. Weiter. Statt lose am Band hakte sich unser Läufer jetzt immer öfter bei mir unter. Manchmal auch bei Therese und mir. Sollten wir uns Sorgen machen? "Hans, wir können auch gehen. Du musst hier niemandem etwas beweisen." – "Passt schon. Laufen ist für meine Beine besser." – "Wie du meinst, du sturer Hund." Therese sah mich skeptisch an und legte den Kopf fragend schief: "Are you sure he is okay and can still run?" – "This is his decision. He is a grown-up man."

Foto: Thomas Rottenberg

Nach der Bronx geht es zurück nach Manhattan. "Last Damn Bridge" stand auf dem Schild, das ein Zuschauer uns hier entgegenhielt. Ein paar Kilometer gerade und eben – und dann die Park Avenue hinauf: Wieso zwei parallel laufende Straßen (First und Park), die man in entgegengesetzter Richtung beläuft, bergauf gehen können, ist eines der Rätsel des New-York-Marathons. Wir waren mittlerweile über vier Stunden unterwegs. Rund um uns wurde gekämpft. Immer mehr Läufer wurden Geher. Eine junge Frau setzte sich plötzlich mitten auf die Straße. Natürlich genau vor Hans-Ewald.

Die drei bislang so fröhlichen französischen Rollstuhlfahrer brachten mir Flüche bei, die sogar mir eine Spur zu derb klangen. Aber die Straße war unerbittlich – und ging immer weiter bergauf. Das Gebrüll des Publikums schob Hans-Ewald an. "Go, Achilles!" – "Almost there!" – "You can do this, man!" Endlich: Die Straße schwenkte nach rechts, in den Central Park. Noch dreieinhalb Kilometer. Hans-Ewald war still, aber er lief.

Foto: Thomas Rottenberg

Nach den Windungen durch den Central Park läuft man noch einmal kurz am Fuße von New Yorks Skyline. Das Gebrüll ist hier so laut, dass man das eigene Wort nicht mehr versteht. Aber Hans-Ewald war ohnehin still. Sehr still. Zu still. Aber: Er lief. Seit gut einem Kilometer zwar im Schritttempo, aber es war definitiv noch Laufen – auch wenn ich längst ins Gehen gewechselt hatte und spürte, wie der Mann neben mir mit jedem Meter mit mehr Gewicht in meinem Arm hing. Ich fühlte Thereses Blick in meinem Nacken. Aber auch sie wusste: "You will see the finish line. We will do this together."

Foto: Thomas Rottenberg

Ich weiß nicht, ob und wie Hans-Ewald die letzten Meter mitbekam. Sicher: Er hing schwer in unseren Armen, aber er lief. Aus eigener Kraft und auf eigenen Beinen. Ziellinie. Durchatmen. "Man, you just ran New York! I am so f_cking proud you did this!", brüllte uns, ihm, ein Wildfremder mit fassungslosem Gesicht zu, schlug Hans anerkennend auf den Rücken und verschwand in der Menge. Hans-Ewald stand einfach nur da. Zu erschöpft und/oder zu gerührt, um eine Reaktion zu zeigen. Meine Uhr zeigte 5:17:50. Wir hatten mit sechs Stunden gerechnet. Aber noch nie war mir eine Zeit noch wurschter als heute gewesen.

Foto: Thomas Rottenberg

Therese nahm Hans-Ewald in den Arm: "Thank you, Hans. Without you I would not have had the power to finish this race. It was you who brought me here." Ich glaube nicht, dass Hans-Ewald in diesem Augenblick hörte oder verstand, was sie sagte, aber ich weiß, dass Therese es genau so meinte.

Ich begann langsam, mir Sorgen zu machen. Bis hierher hatte ich einen Plan gehabt. Ab jetzt würde ich improvisieren müssen: Nach der Ziellinie ist dieser Marathon nämlich noch lange nicht vorbei. Um den Kleidersack zu holen und überhaupt aus dem Park zu kommen, muss man noch einige Kilometer gehen. Und dann an der Außenseite des Central Parks wieder zurück Richtung Lower Manhattan spazieren. Noch ein paar Kilometer. Ich wusste nur eines: Hans-Ewald würde das jetzt, wo der Druck und der Wille anzukommen weg war, nicht schaffen.

Foto: Thomas Rottenberg

Hätte ich nicht schon zuvor allen nordischen Göttern für das Auftauchen der norwegischen Übersetzerin gedankt, wäre hier und jetzt der Zeitpunkt dafür gewesen: Therese arbeitet mit Behinderten und war deshalb schon einige Male mit Behindertengruppen beim Marathon hier. Sie kennt also die Arbeit und Strukturen von Achilles genau. Sie wusste deshalb auch, dass wir nur mit den Fingern zu schnippen brauchten, um von Achilles-Mitarbeitern eingesammelt zu werden …

Foto: Thomas Rottenberg

… und über einen separaten Ausgang früher aus dem Park zu kommen. Doch Therese wusste auch, dass es eigens für die "Athletes with disabilities" ein Wärmezelt mit freundlichen und geduldigen Sanitätern gibt: Die Sanis packten Hans-Ewald in warme Decken, massierten ihm die Krämpfe aus den Waden und den Oberschenkeln, maßen Blutdruck und Puls, gaben ihm Salzbrezeln und Elektrolytgetränke und warteten geduldig, bis er wieder Farbe im Gesicht hatte und nach einer Viertelstunde wieder zu blödeln und zu erzählen begann.

Dann brachten sie uns zu einem Shuttle, das uns zu unserem Hotel führte. Ich bedankte mich. "No, do not thank us – thank Hans: It is people like him who show us, what we can achieve, if we believe in our dreams and in ourselves."

Foto: Thomas Rottenberg

Schon am Abend war Hans-Ewald wieder fidel und auf den Beinen. Am Montag, dem Tag nach dem Marathon, war ihm von den Strapazen des Laufes nichts mehr anzumerken oder anzusehen: Während Eric und ich mit dem Großteil von Andreas Perers Runners-Unlimited-Läufern zurück nach Österreich flogen, schulterte Hans-Ewald seinen Rucksack und machte sich gemeinsam mit seiner Betreuerin und Begleiterin (und nebenbei Klettertrainerin), Susanna Huber, auf den Weg nach Kalifornien.

Denn Hans-Ewald Grill hat schon wieder einen Traum. Bei den nächsten Paralympischen Spielen soll nämlich Klettern auf dem Wettkampfplan stehen. Deshalb wollen Hans-Ewald und Susanna unter anderem in den Yosemite National Park, um zu klettern. Auch wenn es sicher Leute gibt, die meinen, dass ein Blinder dafür nicht weiter als bis nach Hintertupfing fahren sollte. (Thomas Rottenberg, 8.11.2017)


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