Ihr Kassasturz erregt Zweifel: Koalitionsverhandler Kurz und Strache.

Foto: Matthias Cremer

Wien – Es war die zentrale Erkenntnis aus dem "Kassasturz", mit dem die Koalitionsverhandler die finanzielle Lage des Staates ergründen wollten: Weil die scheidende Regierung und die Parlamentsparteien seit Jänner viele Beschlüsse ohne Gegenfinanzierung gefasst hätten, rechneten Sebastian Kurz und Heinz-Christian Strache vor, drohe das Budgetdefizit im kommenden Jahr zu steigen. Es gebe also "Handlungsbedarf", sprich: die Notwendigkeit zum Sparen.

Die ÖVP-FPÖ Regierungsverhandler schwärmen weiter vom guten Verhandlungsklima. Am Mittwochabend im ORF-Report waren es etwa Gernot Blümel von der ÖVP und Norbert Hofer von der FPÖ, beide in der Steuerungsgruppe um die Parteichefs.
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Geht es nach den präsentierten Zahlen, dann hat diese Budgetlücke eine beträchtliche Dimension. Während das strukturelle Defizit im Staatshaushalt heuer 0,46 Prozent des Bruttoinlandsproduktes (BIP) betragen werde, so die Parteichefs von ÖVP und FPÖ, werde der Wert 2018 ohne Gegenmaßnahmen bei 1,5 Prozent liegen. Der Fehlbetrag, um wieder auf die von der EU vorgeschriebenen 0,5 Prozent zu kommen, macht nach dieser Rechnung somit rund vier Milliarden Euro aus.

Der Nationalrat war's nicht

Was daran stutzig macht: Vor wenigen Wochen klangen die Prognosen noch deutlich optimistischer. Am 16. Oktober hat das Finanzministerium eine Budgetvorschau an die EU geschickt und das strukturelle Defizit – Konjunktureffekte werden herausgerechnet – für 2018 mit 1,1 Prozent beziffert. Um aber einen seriösen Vergleich mit den aktuellen 0,46 Prozent anzustellen, muss man – genauso wie dies auch heuer mit Sanktus der EU-Kommission geschieht – die Extrakosten für Flüchtlinge abziehen. Daraus ergibt sich, wie im Report an Brüssel zu lesen ist, ein Defizit von 0,8 Prozent.

Warum Kurz und Strache unter Berufung auf das Ministerium dann plötzlich auf beinahe den doppelten Wert kommen? Die Nationalratssitzung drei Tage vor der Wahl allein kann es nicht gewesen sein: Die aufgebesserte Notstandshilfe, die üppigere Pensionserhöhung und andere Beschlüsse machen 2018 bei großzügiger Rechnung maximal 580 Millionen aus, verursachen also vielleicht ein Defizitplus von 0,15 Prozent.

Später Kostenanstieg

Teureres hat die alte Regierung beschlossen, als sie im Frühjahr ihren letzten Neustart versuchte. Doch Maßnahmen wie der Beschäftigungsbonus, die Investitionsprämie oder die Aktion 20.000 für Langzeitarbeitslose sind im Bericht des Finanzministeriums an die EU längst angeführt und folglich eingepreist – oder?

Der Report an Brüssel sei nur eine "Grobschätzung", heißt es auf Nachfrage im Ministerium. Nun hätten die Experten die Regierungsbeschlüsse "tiefgehend" und "im vollen Umfang" analysiert – und höhere Kosten errechnet als ursprünglich ausgewiesen.

Was die Auskunft aus dem Ressort ebenfalls ergibt: Bei den 1,5 Prozent Defizit sind die Flüchtlingskosten mit dabei. Bei der Zahl für 2017 haben Kurz und Strache diese Ausgaben also ausgeklammert, bei jener für 2018 hingegen eingerechnet – womit der Anstieg größer erschien, als er ist.

Scheinbare Sparerfolge

Die künftige Opposition wittert hinter den Zahlspielen Kalkül. Die Koalitionäre in spe, mutmaßt SPÖ-Chef Christian Kern, bauschten das Defizit künstlich auf, um Einschnitte im Sozialstaat rechtfertigen und hinterher scheinbare Sparerfolge feiern zu können.

Weit weg von den neuen Zahlen ist auch die Prognose des Wirtschaftsforschungsinstituts (Wifo) vom Oktober, die für 2018 ein strukturelles Defizit von 0,6 Prozent auswies. Inklusive der Last-Minute-Beschlüsse im Nationalrat sollte der Wert folglich nicht über 0,8 Prozent liegen.

Über Gründe für die Diskrepanz spekuliert Wifo-Expertin Margit Schratzenstaller nicht, sie sagt nur so viel: "Die Einschätzung des Finanzministeriums ist sehr vorsichtig." Große Strukturreformen, vom Förder- bis zum Gesundheitssystem, seien hoch an der Zeit, doch für die aktuelle Budgetlage gelte: "Ein kurzfristiges Konsolidierungspaket ist nicht nötig." (Gerald John, 8.11.2017)