Viele Menschen wissen gar nicht, dass ihre Blutzuckerwerte zu hoch sind. Experten gehen von einer hohen Dunkelziffer bei Diabetes aus.

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Es gibt einen Trend, der viele Bereiche der Medizin erfasst hat. Was früher einmal unter einem Krankheitsüberbegriff zusammengefasst wurde, splittet sich zunehmend in Untergruppen auf. Diabetes ist ein exzellentes Beispiel. Jeder Organismus ist unterschiedlich. Auch was den Insulinhaushalt betrifft. Nicht nur das Alter, das Geschlecht und diverse Begleiterkrankungen spielen eine Rolle, auch der individuelle Stoffwechsel entscheidet, wie gut oder schlecht der Körper mit der gestörten Insulinausschüttung zurechtkommt.

"Diabetes selbst ist nicht ansteckend, verbreitet sich aber mit rasender Geschwindigkeit über den Erdball aus, weil der Lebensstil, der die Erkrankung fördert, ansteckend ist", sagt Hermann Toplak, Präsident der Österreichischen Diabetes-Gesellschaft (ÖDG), der die Ambulanz für Lipidstoffwechsel der Uniklinik für Innere Medizin an der Med-Uni Graz leitet. Das Leben in der Stadt, die Arbeitswelt, aber auch das Ess- und Freizeitverhalten fördern die Zuckerkrankheit. Sie spiegelt sich in den steigenden Zahlen wider. 422 Millionen Menschen weltweit sind an Diabetes erkrankt, 1,6 Millionen Todesfälle sind direkt auf die Erkrankung zurückzuführen. Das größte Sterberisiko sind die mit Diabetes verbundenen Schädigungen des Herz-Kreislauf-Systems, die zu Herzinfarkt und Schlaganfällen führen können.

In den Griff bekommen

Für alle, die an Diabetes erkrankt sind, muss eine orale Therapie oder die Insulinzufuhr von außen Teil des Tagesablaufs werden. Gab es vor 20 Jahren nur einige wenige Diabetes-Medikamente, steht heute nicht nur eine wesentlich größere Auswahl von Substanzen zur Verfügung, sondern auch unterschiedliche Varianten derselben. Sie müssen je nach individuellem Bedarf dosiert und kombiniert werden.

Jeder Diabetiker ist anders und braucht eine entsprechend maßgeschneiderte Therapie, so der Grundtenor am weltgrößten Diabetes-Kongress in Lissabon. Was beispielsweise einer zusätzlich an Osteoporose erkrankten Frau nach dem Klimakterium nutzt, kann einer 30-jährigen Diabetikerin schaden. "Um in der Prävention, Früherkennung und Behandlung Frauen und Männer gleich gut versorgen zu können, brauchen wir mehr genderbewusste Diabetes-Forschung", mahnt Alexandra Kautzky-Willer von der Abteilung für Endokrinologie und Stoffwechsel an der Uniklinik für Innere Medizin an der Med-Uni Wien und begrüßt, dass die ÖDG das Thema Frauen in den Mittelpunkt ihrer diesjährigen Kampagnen stellen wird (siehe Kasten).

Die Wissensexplosion um die Erkrankung, verbunden mit einer Erweiterung des therapeutischen Spektrums, bringt den Experten allerdings nicht nur neue Möglichkeiten, sondern auch Sorgen. Nach wie vor die Hälfte aller Zuckerkranken wird nicht von Diabetes-Experten, sondern von den Hausärzten betreut. Nicht alle können aufgrund des rasanten Wissenszuwachses immer am neuesten Stand der Möglichkeiten sein. Ziel sei eine einheitliche Versorgung.

Denn abgesehen von dem sich erweiternden medikamentösen Möglichkeiten gibt es auch beeindruckende Innovationen, was die Messung des Blutzuckerspiegels betrifft. Eine automatische Insulinpumpe war der große Hype in Lissabon, wo gleich auch eine Leistungsschau mit aktuellen Innovationen stattfand. Müssen Diabetiker zurzeit stets Aufmerksamkeit auf ihren Blutzuckerwert richten, um sich gegebenenfalls eine entsprechende Insulindosis zu verabreichen, könnte die Technik also neue Freiheit bedeuten.

Was Hightech bringt

Das heißt: Ein am Körper getragenes Gerät misst permanent den Blutzucker und kommuniziert einer Pumpe, wie viel Insulin gerade notwendig ist. Kaleido ist der Name so eines Systems, das derzeit evaluiert wird. Es würde Patienten von den täglichen Messroutinen befreien und mehr Flexibilität bei den Mahlzeiten bringen. Vor allem: Durch Hightech ließe sich auch die Gefahr einer Hypoglykämie, also der Unterzuckerung, reduzieren, also eine mitunter lebensgefährliche Störung der Regulierung zwischen Glukose-Abgabe durch die Leber und Glukoseaufnahme durch die Organe vermeiden.

"Die technische Diabetes-Therapie könnte bei kleinen Kindern oder alten Menschen eine neue Option sein", sagt Sabine Hofer vom Department für Kinder- und Jugendheilkunde der Med-Uni Innsbruck. Kleine Kinder und alte Menschen spüren die Vorzeichen von Unterzuckerungen oft nicht, vor allem nicht nachts. In diese sogenannten Continous Glucose Monitoring Devices (CGM) kann auch eine Warnfunktion eingebaut werden, die einen zu niedrigen Blutzuckerwert per SMS an die Betreuungspersonen versendet.

"Es geht auch darum, die Zeit pro Tag, in der der HbA1C-Wert im Normbereich liegt, zu erhöhen", so Hofer, die aber auch die kritischen Aspekte der neuen automatisierten Systeme anspricht. Etwa die Möglichkeit, dass ein Gerät plötzlich kaputt ist, nicht mehr misst und ein Patient dadurch in einen kritischen Zustand gerät.

Zudem glaubt Hofer, dass die mit solchen Geräten lukrierte Datenflut für Patienten auch eine psychische Belastung werden könnte. "Wie geht ein Betroffener mit diesen Körperwerten um", vor allem dann, wenn die Werte nicht besonders gut sind, fragt sie. (Peter Hopfinger, 14.11.2017)