"Welchen Teil von 'eher kürzer' hast du nicht verstanden?" Das Spiel zwischen Trainer und Kunden hat Regeln. Und wenn der Kunde – in diesem Fall ich – das Gegenteil von dem tut, was der Coach – hier Harald Fritz – in den Trainingsplan schreibt, kommt irgendwann der Ordnungsruf. Auch wenn Fritz im Vorhinein weiß, was die Antwort darauf sein würde: "Wenn es Spaß macht und läuft, dann laufe ich eben." Ein Trainer hat eine Art Elternrolle: Auch wenn er den Unfug des Zöglings mehr als nachvollziehen kann: Das Erziehungsziel geht vor.

Ich weiß eh: Fritz hat recht. Der Ausdauercoach hat mir nicht aus Jux und Tollerei lediglich "45 Minuten locker" vorgegeben. Da war dieser Zusatzsatz: "Schau, wie es den Haxen vom NYC-Marathon geht: eher kürzer als zu lange!"

Fritz wusste natürlich, dass ich am Sonntag davor einen Marathon gelaufen bin. Er wusste auch, dass ich – auf die Dauer bezogen – noch nie so lange gelaufen bin. Und er wusste, dass ich dafür nicht vorbereitet gewesen war: Dass der Körper danach eine Pause braucht, ist klar. Nur: Sagen Sie das einmal dem Kopf eines Laufjunkies.

Foto: Thomas Rottenberg

Die Geschichte von meinem Abstecher zum New-York-Marathon 2017 habe ich in der Vorwoche hier erzählt. Weil es nicht zur eigentlichen Geschichte gehört, habe ich Rundum-Details ausgelassen: Dass ein Marathon eigentlich Vorbereitung braucht, ist kein Geheimnis. Auch wenn es Leute gibt, die "spontan und wegen einer Wette am Abend davor" direkt aus dem Beisl auf die Laufstrecke gekommen sein wollen, sieht die Wirklichkeit meist anders aus. Mit Gründen. Denn 42 Kilometer zu Fuß sind lang. "Wenn du fünf Stunden gehen kannst, schaffst du auch einen Marathon", hatte mir Michael Buchleitner vor meiner ersten Langstrecke gesagt. Nachsatz: "Du darfst nur nicht versuchen schnell zu sein."

Schnell ist relativ. Ich bin es nicht. Lang laufen sollte man dennoch üben: Ich hatte seit meinem Boston-VCM-Doppel im April keinen Lauf absolviert, der länger als zweieinhalb Stunden gedauert hat.

Foto: Thomas Rottenberg

Als die Option in New York zu laufen exakt eine Woche vor dem Startschuss aufpoppte, war das deshalb tricky: Das Tempo, das mein "Schützling" Hans-Ewald Grill anpeilen wollte, war wirklich moderat. Die Zeit, die wir vermutlich unterwegs sein würden, aber deftig: sechs Stunden. 8:34 Minuten pro Kilometer. Sieben km/h. "Konditionell ist das kein Thema für dich", analysierte Fritz, "aber die Zeit ist muskulär und für die Gelenke relevant: Du hast dich darauf genau gar nicht vorbereitet. Schaffen wirst du das – aber gönn dir danach die Pause, die dein Körper braucht. Auch und gerade, wenn du es nicht spürst."

Foto: Thomas Rottenberg

"Danach" ist bei einem Marathon relativ. Es ist eigentlich lustig anzusehen – wenn man nicht selbst einer der staksenden Untoten ist. New York ist da etwas ganz Besonderes. Nicht zuletzt, weil man den Finishern so gut ansieht, dass sie Finisher sind.

Unmittelbar nach dem Lauf ist das offensichtlich: Da zieht eine Karawane von Schlümpfen durch die Stadt. Auch wenn den NY-Marathon-Poncho nicht alle, sondern nur jene Läuferinnen und Läufer bekommen, die schlau genug waren, kein Gepäck vom Start ins Ziel bringen zu lassen (und die "No-Luggage-Option" gleich bei der Anmeldung angaben), zeigt die blaue Armee unübersehbar: Hier war Marathon. Das ist in Wien und anderswo nicht anders: Da sieht man statt Ponchos Nylonsackerln und Plastikfolien.

Foto: Robert Fritz/ www.sportordination.com

Richtig lustig wird es in New York am Tag danach: Es gehört zur US-Marathonfolklore, die Medaille stolz über der Kleidung zu tragen. Im Office, auf der Straße, im Diner. So pathetisch-kindisch das wirkt: Das kann was, macht Spaß. Und tut gut: Jeder, der "gefinisht" hat, ist ein Held. Mich wollten im Hotellift drei Pharmakongressteilnehmer nicht aussteigen lassen, bevor sie Fotos hatten. Polizisten schütteln einem die Hand. Die Kassiererin bei Pret a Manger will die Medaille berühren dürfen. Eine Mutter präsentiert uns ihren Kindern an der Kreuzung als "echte Vorbilder". Das tut keinem weh – sondern lenkt von Schmerzen ab.

Denn das ist das dritte Erkennungsmerkmal: Finisher können oft kaum mehr gehen. Googeln Sie "day after the marathon". Es ist genau so. Ich hatte diesmal Glück: Ich konnte gehen, hopsen und Stiegen steigen. Das gilt es zu nutzen, meint mein Coach: "Kurze (30 Minuten Lauf oder 45 Minuten Rad), ganz lockere Einheiten können am Tag nach langen oder intensiven Belastungen die Regeneration fördern. Im Zweifelsfalle liegt aber in der Ruhe die Kraft."

Foto: Thomas Rottenberg

Und: Nach dem Marathon ist Cheat-Week. Denn mit das Geniale an der Zeit unmittelbar nach einem Marathon (und ganz knapp davor) ist ja, dass man dem Körper da Energie in rauen (und auch "bösen") Mengen nicht nur zuführen darf, sondern auch soll. Und muss: Zu Andreas Perers Runners-Unlimited-Lauf-Reisegruppe nach New York gehört traditionell auch Robert Fritz, einer der Sportärzte der Wiener Sportordination.

Robert Fritz (mit Harald Fritz nicht verwandt) läuft selbst (rechts, schwarzes Shirt) mit, bittet aber vor dem Marathon zum Race-Briefing – und betont zweierlei: "Unmittelbar vor, aber vor allem nach dem Marathon ist in puncto Ernährung vieles erlaubt, was ich sonst bei meinen Ernährungscoachings striktest untersage. Aber der Körper verbrennt jetzt soviel Energie, dass es nix ausmacht."

Gleichzeitig warnt Fritz aber auch vor dem "Open Window"-Effekt unmittelbar nach dem Lauf: Die Anstrengung schwächt den Körper so, dass das Immunsystem nur noch auf Sparflamme aktiv ist. Erkältungskrankheiten und anderen Infektionen stehen jetzt Tür und Tor offen. Gegenmaßnahmen? Unter anderem Ruhe, Erholung, Wärme, Komfort – und Schlaf.

Foto: Thomas Rottenberg

In der Theorie ist das, was die Herrn Fritz und Fritz über lockere Bewegung, entspannte Ruhe und guten Schlaf predigen ja schön und schlüssig. In der Praxis ließ sich am Montag nach dem Marathon aber gerade eine kleine Spazierrunde im Central Park einbauen, bevor es zu Mittag zum Flughafen ging. Dort sitzt man dann. Danach quetscht man sich acht Stunden unbeweglich in die Holzklasse, wird von der Klimaanlage tiefgekühlt, trinkt viel zu wenig und bekommt mitunter Nahrung, die oft nicht einmal versucht, wie echtes Essen auszusehen. Geschweige denn so zu schmecken oder zu funktionieren. Schlafen ist relativ.

Nur: Mir ging es ja eh super. Keine Schmerzen, kein Muskelkater, keine schweren Beine. Um den Jetlag zu vermeiden, hab ich im Flieger statt zu schlafen eben gearbeitet und die Laufgeschichte mit und über Hans-Ewald Grill geschrieben. In Wien war ich Dienstagvormittag dann zwar müde – aber nicht zu fertig, um bis zum Abend wach zu bleiben, ein bisserl Yoga zu machen und mit der Blackroll zu spielen. So wie es auch Harald Fritz für die Post-Auspower-Phase empfiehlt: "Leichtes Stretching, arbeiten mit der Faszienrolle, Massage, aber auch Sauna (und für die ganz Wilden: die Kryokammer) helfen ebenfalls. Und unschlagbar in puncto Regeneration: Schlaf, je mehr, desto besser."

Am nächsten Tag fühlte ich mich in der Früh fit und ausgeruht – und wollte nur eines: mich endlich bewegen. Viel und intensiv.

Foto: Robert Fritz/ www.sportordination.com

Die Sache hatte nur einen Haken: Ich musste zur Arbeit. Und am Ende des Office-Tages war von Frische und Power nimmer viel übrig. Im Gegenteil. Wer sitzt, bleibt sitzen. In der Sprache der Ausdauercoaches liest sich das so: "Die richtige (und im Spitzensport die schnelle) Regeneration ist der Heilige Gral der Trainingswissenschaft. Wer schneller und besser regeneriert, kann schneller wieder trainieren. Der Unterschied zwischen Spitzen- und Hobbysport liegt oft genau darin: Training muss in den Tagesablauf 'reingequetscht' werden – und die wenigsten können nach einem Training ordentlich essen, geschweige denn schlafen oder massiert werden." Das mit dem Essen ist zwischen irgendwelchen Meetings oder vor dem Bildschirm aber ebenfalls eine Katastrophe: Zu versuchen, mit Pizzaschnitten (= trashigem Fett), gezuckertem Kaffee und Schokolade den Motor anzuwerfen, verstößt so ziemlich gegen alles, was man über Essen in der Recovery-Zeit lernt ("Zum richtigen Zeitpunkt das Richtige zu essen füllt die leeren Speicher und ist ein ganz wesentlicher Baustein in der Regeneration", Harald Fritz). Mehr noch: Der Müll lähmt. Er vernichtet mehr Energie, als er bringt: Mittwochabend ist Schwimmtraining. Während meine Trainingsgruppe zügig Länge um Länge abspulte, war ich Treibholz.

Foto: Thomas Rottenberg

Der nächste Tag, Donnerstag, war besser: Regeneratives Beineausschütteln mit dem Rad auf der Walze wäre die Idee gewesen. Nur: Da war meine Freundin – und die wollte raus. Zurecht. Und so gut ist keine Netflix-Serie, dass ich die Walze nicht gegen einen lockeren und entspannt-langsamen Lauf zu zweit eintauschen würde. Erst recht bei traumhaftem Herbstwetter. Außerdem hatten wir am Sonntag etwas vor. Dazu später.

So wirklich fit, merkte ich rasch, war ich aber nicht: schwere Beine. Sehr schwere Beine. Eva war so nett, so zu tun, als drossle sie das Tempo nicht meinetwegen, sondern weil sie nicht schneller unterwegs sein wolle.

Aber ein Lauf muss weder lang noch schnell sein, um wunderschön sein zu können. Und auch der Effekt war genau der, den ich mir erhofft hatte: Bewegung belebt – und die Beineauschütteldosis, -dauer und -intensität war genau richtig gewesen: Am Freitag holte ich in der Früh das lockere Walzenradeln nach und ging am späten Nachmittag schwimmen. Siehe da: Es war und tat gut.

Foto: Thomas Rottenberg

Am Samstag war Sololaufen angesagt. Die eingangs erwähnten 45 Minuten. Locker, langsam und leicht. Nur: Ich war seit über einer Woche nicht mehr richtig gelaufen. "Richtig" im Sinne von "zügig". Eh nicht "schnell". Nach der Einlaufphase wollte ich endlich wieder spüren, wie sich eine Fünfer-Pace anfühlt. Eh nur kurz. Oder eine 4’45"-er. Und weil man läuft, wenn es läuft, wurde aus einer geplanten dreiviertel Stunde Regenerationsjoggen eine satte, zügige Laufstunde – Ordnungsruf inklusive.

Foto: Thomas Rottenberg

Andererseits war es aber eh gut, zumindest ein bisserl Gas gegeben zu haben: Schließlich wurde am Sonntag im Prater mit dem Sie-und-er-Lauf der Laufsaisonausklang eingeläutet. Nicht, dass man danach, im Winter, nicht mehr laufen kann, darf oder soll – aber für die meisten Hobbyläuferinnen und -läufer klingt die Wettkampf- und Volkslaufsaison jetzt langsam aus.

Und der von Frauenlauf-Erfinderin Ilse Dippmann und Andreas Schnabel organisierte Paarstaffellauf passt vom Setting her gut in die Chill-out-Phase nach den "großen" Läufen: Zweimal gilt es da den Rundkurs über vier Kilometer zu absolvieren …

Foto: Thomas Rottenberg

… sei es als "Ehepaar", (tatsächlich als eigene Kategorie) "Paar ohne Trauschein" oder als "Freunde", "Kollegen" oder "Eltern-Kind-Gespann". Einzige Vorgabe: Einmal männlich, einmal weiblich – die Reihenfolge bleibt jedem Team überlassen.

Genau genommen würde das System bedingen, dass man außer der An- und der Abreise hier wenig gemeinsam erlebt. Aber abgesehen von den Eliteläuferinnen und -läufern nimmt das zum Glück niemand so genau. Deshalb sieht man immer wieder Paare, die den zweiten Part gemeinsam absolvieren, Eltern mit Kind – wie hier der Wiener Laufcoach Alfred Sungi mit seiner (unpackbar schnellen und für die Kamera jetzt schon zu flotten) Tochter Sarah – ebenso wie Geschwister, Freunde, Wohn- oder Bürogemeinschaften, Großväter mit Enkelinnen oder "echte" Paare.

Foto: Thomas Rottenberg

Eva und ich liefen, eh klar, den zweiten Part zusammen. Auch wenn wir nicht mit vollem Druck liefen, war es im Nachhinein gut, tags zuvor wieder ein bisserl Tempo geschnuppert zu haben: Nur mit den gemächlichen Marathonmeilen in den Beinen wäre das kein Spaß gewesen.

Mehr als acht zügige – respektive: vier flotte – Kilometer hätte ich mir nicht angetan: Den Stunt von Boston – sechs Tage nach dem hügeligen Kultmarathon beim Vienna-City-Marathon "versehentlich" persönliche Bestleistung zu rennen – schaffe ich kein zweites Mal. Ganz abgesehen davon, dass ich mich damals monatelang vorbereitet hatte.

Unser Ergebnis beim Sie-und-er-Lauf? Wir waren bloß zehn Minuten und acht Sekunden langsamer als die Sieger, Vera Mair und Stephan Listabarth – verfehlten das Stockerlplatz also nur um Haaresbreite. Oder so ähnlich.

Foto: Christoph Riedl-Daser

Doch ums Gewinnen war es nie gegangen – sondern ums Erholen. Um die Auszeit, das Batterienaufladen, das Wohlfühlen und um sich selbst Gutes zu tun. Darum, dem Yin – der Anspannung und dem schnellen Impuls – das Yang, die Entspannung und das langsame Fließen, zur Seite zu stellen. Nur mit Laufen, Schwimmen und Radfahren geht das aber nicht – da fehlt etwas.

Also verfrachtete mich Eva nach dem Lauf im Prater dann in Raphaela Pruckners Hot Yoga Vienna: Dort, am Lugeck, hielt der griechische Yogalehrer Niko Geo am Wochenende einen Workshop. Ganz ehrlich? Diese 150 Minuten Yoga im heißen Raum in Wien brachten mich näher an meine Grenzen als fünf Stunden Laufen in New York eine Woche zuvor. Aber das ist eine andere Geschichte. (Thomas Rottenberg, 15.11.2017)


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Foto: Thomas Rottenberg