Foto: Getty Images/iStockphoto/flamigni

Xiamei Gao kann sich noch gut erinnern, als sie das erste Mal "Acht Schätze" gegessen hat. Sie war 16 Jahre alt und gerade aus ihrer Heimat Dandong im Nordwesten Chinas nach Hermagor in Kärnten gekommen, wo ihr Vater ein Chinarestaurant betrieb. "Ich kannte das damals nicht, aber es hat sehr gut geschmeckt", sagt sie. Bis heute isst sie es immer wieder gern, und es steht immer noch auf der Karte ihres Restaurants – neben anderen Klassikern wie knuspriger Ente, Schnitzel und Spaghetti Bolognese.

Frau Gao betreibt eines der geschätzten 1100 Chinarestaurants in Österreich, insgesamt 90 Prozent aller chinesischen Einwanderer sollen hier in der Gastronomie arbeiten. Und überall, wo Chinesen Restaurants aufsperren – von San Francisco über Singapur bis Hermagor –, halfen und helfen sie, eine ganz eigene Form der chinesischen Küche zu entwickeln. Wie diese Küchen aussehen, erzählt mindestens so viel über das Gastland, über seine Geschmäcker, Zutaten und Kochtraditionen, wie über China.

Manchmal haben diese Küchen-Mixe eigene Namen und eine lange Tradition, etwa die berühmte Nyonya-Cuisine der "Straßenchinesen" in Malaysien oder die Chifa-Cuisine chinesischer Auswanderer in Peru; manchmal bringen sie weltberühmte Gerichte hervor, die aus dem Ausland kommend auch in China populär werden, etwa General Tsaos Huhn oder Chopsuey, beides aus den USA; und fast immer sind sie in ihren Ländern mindestens so beliebt und vertraut wie die vermeintlich heimische Küche.

Erstes Chinarestaurant in Wien

Die österreichisch-chinesische Küche ist vergleichsweise jung: Anders als andere Weltgegenden zog Österreich lange keine chinesischen Einwanderer an. Das erste – und sehr lange einzige – Chinarestaurant wurde in den 1920er-Jahren auf der Meidlinger Hauptstraße in Wien eröffnet, mit nur vier, fünf Tischen, an denen vor allem die Handvoll chinesischer Hausierer speiste, die bei den Heurigen der Stadt Papierblumen und anderen Nippes verkaufte.

Gegen Ende des Zweiten Weltkriegs wurde es von einer Bombe getroffen und nicht mehr aufgesperrt. Erst nach dem chinesischen Bürgerkrieg, in den 1950er- und 1960er-Jahren, entstand zunächst in Wien eine kleine chinesische Community: Einerseits dank Österreichern, die vor den Nazis nach Schanghai geflohen waren, dort Chinesen geheiratet hatten und nun mit ihren Ehepartnern in ihre alte Heimat zurückkehrten; andererseits dank des Zuzugs taiwanischer Diplomaten und deren Personal.

Zwei Restaurants sperrten für die Neuankömmlinge auf: Der Chinapavillon in der Nähe des Technischen Museums, der von der Frau eines zurückgekehrten jüdischen Ingenieurs betrieben wurde, und der Goldene Drache in der Porzellangasse, der einem chinesischen Gynäkologen gehörte.

So stellt sich das Restaurant "Goldener Drache" vor
Dietlind Kendler

Beide waren teure, gehobene Bankettrestaurants, auf der Speisekarte standen klassische chinesische Delikatessen wie Haifischflossen, Schwalbennester oder Abalone. "Unsere Gäste früher waren vor allem Diplomaten und japanische Delegationen", sagt Daniel Wu, aktueller Wirt des Goldenen Drachen, dessen Vater das Lokal 1963 übernahm. "Wir hatten allein 15 verschiedene Seegurkengerichte auf der Karte."

Der Boom

In den Küchen der frühen Chinarestaurants standen mitunter hochdekorierte, klassisch ausgebildete Köche, wie sie im kommunistischen Mutterland nur mehr selten zu finden waren: Daniel Wus Vater, Wu Chia Chai, war Privatkoch eines Generals in Chiang Kai-sheks Armee gewesen. Nach dem verlorenen Bürgerkrieg floh er nach Taiwan, schließlich kam er nach Europa. Dennoch blieb die hohe chinesische Kochkunst stets Minderheitenprogramm. So richtig populär wurde das Chinarestaurant erst, als es von Leuten übernommen wurde, die mit Kochen ursprünglich nichts am Hut hatten.

Der große Boom begann in den späten 80er-, frühen 90er-Jahren, zunächst aus sehr pragmatischen Gründen: "Zwischen 1988 und 1991 konnten Festlandchinesen ohne Visum nach Österreich reisen, auch das kommunistische China lockerte seine Ausreisebestimmungen", sagt Gerd Kaminski, Leiter des Österreichischen Boltzmann-Instituts für China- und Südostasienforschung und Autor mehrer Bücher über Chinesen in Österreich. Gleichzeitig genügte bereits ein winziger Anteil an einem Chinarestaurant den österreichischen Behörden, um eine dauerhafte Aufenthaltsgenehmigung auszustellen – an jeder Ecke sperrte bald ein Chinese auf.

Die meisten der Neuankömmlinge stammten aus dem Kreis Qingtian, dem Hinterland der Küstenstadt Wenzhou, einer bitterarmen, traditionellen Auswanderergegend, die in China nicht für ihre Küche, sondern für ihre Specksteinschnitzereien bekannt ist. Die neuen Restaurantbesitzer scherten sich dementsprechend selten um traditionelle Kochkunst. In ihren Küchen kochten Leute, die zuvor Arbeiter oder Bauern gewesen waren. Zunächst probierten diese Restaurants es mit Qingtianer Hausmannskost, über die sie Tomatensauce kippten, weil die den Österreichern gut schmeckte. Bald aber stellten sie auf Speisen um, die dem österreichischen Essen ähnelten oder die bereits in Chinarestaurants in anderen europäischen Ländern erfolgreich waren.

Sie sind zu Symbolen der heimischen Variante von chinesischem Essen geworden: Frühlingsrollen und All-You-Can-Eat-Buffets.
Foto: Getty Images/iStockphoto/flamigni

Klassisches austro-chinesisches Essen verdankt sich viel Pragmatismus und leicht erhältlichen bzw. lagerfähigen Zutaten. Bambus aus Dosen oder getrocknete Morcheln sind beliebt, statt Schwein wird öfter Rind verwendet, was in Österreich als feiner gilt, in China aber kaum gegessen wird. "Für die Österreicher war süß und knusprig immer ganz wichtig", sagt Daniel Wu. "Entsprechend wurde viel frittiert und mit zuckrigen Saucen serviert. Fleisch wird, anders als in China üblich, stets vom Knochen geschnitten, bei Geflügel wird meist die in China ungeliebte Brust serviert – "Knusprige Ente", eine gekochte, frittierte, ausgelöste Entenbrust mit süßer Sauce, ist das vielleicht berühmteste Ergebnis.

All-You-Can-Eat-Buffets und niedrige Preise

Niedrige Preise, ausgedehnte Öffnungszeiten, keine Urlaubssperre und schließlich das All-You-Can-Eat-Buffet bzw. der Grill befeuerten den Aufstieg der austro-chinesischen Küche – innerhalb weniger Jahre schafften Chinesen es, den Italienern den Ruf als liebste Ausländer der Österreicher streitig zu machen. Einige brachten es wortwörtlich vom Tellerwäscher zum Millionär.

Lu Jiaxian etwa kam in den späten 80ern aus Qingtian nach Österreich und begann in Wiener Neustadt in einem Chinarestaurant als Tellerwäscher. In seiner spärlichen Freizeit lernte er Deutsch von Pensionisten im Park und aß außerhalb des Restaurants nur Supermarktkekse. Als er genug gespart hatte, sperrte er auf der Wiener Heiligenstädter Straße sein erstes Restaurant Jade auf – drei weitere sollten folgen. Sein Jade-Rindfleisch ist bis heute in Wien ein Begriff. Lus Sohn, in Österreich geboren, ist mehrfacher Millionär und lebt heute in Schanghai, Lu selbst ging in seiner Pension nach Shaoxing und arbeitet dort gelegentlich als Darsteller in Seifenopern.

Hunde und Opium

Nicht immer verlief der Aufstieg der chinesischen Küche reibungslos: Wie andere Minderheiten waren auch Chinesen stets mit rassistischen Vorurteilen konfrontiert, die sich auch gegenüber ihrer Küche niederschlugen. In den USA hatten sie vor allem mit dem Vorwurf zu kämpfen, Hunde zu servieren oder gar keine Restaurants, sondern Opiumhöhlen zu betreiben; in Paris ging lange das Gerücht um, Chinesen verspeisten ihre toten Angehörigen (tatsächlich wurden chinesische Verstorbene oft den lokalen Behörden nicht gemeldet, um die Pension weiter zu kassieren). Und in Österreich mussten sie sich gegen das Gerücht wehren, in ihren Restaurants Katzenfutter aufzutischen.

Der Chinapavillon sorgte bereits in den ersten Jahren seines Bestehens für einen Lebensmittelrechtsprozess: Es musste die Frage geklärt werden, ob es zulässig war, Entenhäute in Frühlingsrollen zu servieren. Viele der Chinarestaurants der 80er- und 90er-Jahre, vor allem in der Provinz, überlebten Anfangs nur dank Touristen, die asiatisches Essen – oder was sie dafür hielten – bereits von zu Hause kannten. Auf Frau Gaos Speisekarte in Hermagor steht bis heute für die holländischen Wintergäste Babi Panggang, indonesisches Grillfleisch, und Nasi Goreng, indonesischer gebratener Reis. Aufgrund der Kolonialgeschichte ist beides bis heute in Holland sehr beliebt.

Mit dem Erfolg der Festlandchinesen verschwand die chinesische Bankettküche fast vollständig aus Wien – auch Daniel Wu stellte in den 80er-Jahren im Goldenen Drachen auf Mittagsbuffets und "Acht Schätze" um. Heute arbeite nur mehr ein einziger klassisch auf einer Akademie ausgebildeter chinesischer Koch in Wien, sagt China-Experte Kaminski: Wu Liming, Chefkoch im Green Cottage in der Kettenbrückengasse. Bevor er nach Wien kam, war er Chefkoch eines berühmten Restaurants in der alten Kaiserstadt Hangzhou.

Neue Generation

Die Zeit des enormen Wachstums am klassischen Chinarestaurantmarkt scheint vorerst vorbei: Einerseits war bereits vor zehn Jahren die Konkurrenz so groß, dass viele Chinesen auf (Running) Sushi oder panasiatische Konzepte umstellten. Und andererseits hat Bildung unter Chinesen traditionell einen extrem hohen Wert, die Kinder der Wirtsgeneration studieren oder haben mindestens Matura und sind nicht mehr bereit, sich die extrem anstrengende Arbeit anzutun.

Aktuell wird in Wien trotzdem wieder mehr chinesisches Essen serviert, das es in ähnlicher Form auch in China gibt – dank wachsender Community und der Touristen. Am Wiener Praterstern gibt es etwa ein höchst erfolgreiches Feuertopf-Restaurant, das Jasmin in Wien Donaustadt versorgt chinesische Gruppen mit Fisch und Meeresfrüchten (und sehr chinesischer Speisesaalatmosphäre), und vor allem rund um den Naschmarkt gibt es passable Hausmannskostlokale. Der chinesische Unternehmergeist macht selbstverständlich nicht bei der eigenen Küche halt: Ein weiterer Trend geht zur österreichischen Hausmannskost. So sind zum Beispiel bereits die Gösser Bierklinik und das Griechenbeisl in chinesischer Hand.

Und die "Acht Schätze"? Die kann niemand restlos erklären. Acht ist in China eine Glückszahl, und es gibt zwei Gerichte mit ähnlichem Namen ("Acht Köstlichkeiten"): Das eine ist eine Art Pudding aus Klebreis, roten Bohnen, Datteln, Lotuswurzeln, getrockneten Früchten und Nüssen. Das andere eine Ente, die mit Klebreis, getrockneten Shrimps, Nüssen und anderen "Köstlichkeiten" gefüllt wird. "Ich nehme an, die Austro-Chinesen haben dieses Konzept der Acht Köstlichkeiten einfach übernommen und alles zusammen geworfen, was sie hatten", sagt Wu. Kaminski schätzt überhaupt, dass das Gericht nicht aus Österreich stammt, sondern aus anderen Ländern übernommen wurde, wo es bereits erfolgreiche Chinarestaurants gab.

Bei aller Anpassung: Manche österreichische Eigenheiten bleiben den hiesigen Chinesen auch nach Jahren ein Rätsel. Frau Gao, die Wirtin in Hermagor, wundert sich immer noch über den Pflaumenwein, den sie ihren Gästen ausschenkt. "Ich habe so etwas noch nie in China gesehen", sagt sie. "Laut Flasche kommt der Wein aus der gleichen Provinz, aus der auch meine Kellnerin kommt. Aber die kennt ihn auch nicht." (Tobias Müller, RONDO, 7.1.2018)


Weiterlesen:

Gebratener Reis: Dem Reis den Rest geben

"Asiatisch kochen": Bild für Bild