Sexueller Missbrauch wird im Norden schon viel länger und strenger diskutiert und ernst genommen als in Österreich.

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In Schweden werden pro 100.000 Einwohnerinnen und Einwohner 60 Vergewaltigungen im Jahr zur Anzeige gebracht. Das ist die höchste Quote in ganz Europa. Wie kann das sein? Angefangen hat es mit der ernsthaften Willensbekundung der schwedischen Politik, gegen Vergewaltigung anzukämpfen: Seit 2010 wird daher jede sexuelle Handlung als Vergewaltigung gewertet, die unter Zwang, Drohung oder während des Schlafs oder Krankheitszustands an jemandem ausgeführt wird und einer Vergewaltigung ähnelt, wie zum Beispiel das Einführen von Gegenständen, Zwang zu Oralsex oder Zwang, das primäre Sexualorgan des Täters anzugreifen. Sex eines Erwachsenen mit einem Jugendlichen unter 15 Jahren gilt in jedem Fall als Vergewaltigung.

Zeitgleich mit dieser Verschärfung des Strafrechts wurden Frauen offensiv ermutigt, Vergewaltigungen zur Anzeige zu bringen. Vergewaltigende Männer sollen mit Konsequenzen rechnen. Außerdem zählt in Schweden jede Vergewaltigung für sich. Wenn eine Frau zum Beispiel in den USA auf die Polizeistation geht und ihren Ehemann wegen Vergewaltigung anzeigt, steigt die Statistik um eine Vergewaltigung. Auch wenn er sie 20-mal vergewaltigt hat. In Schweden werden alle 20 Vergewaltigungen desselben Täters einzeln gezählt. So kommt die hohe Vergewaltigungsstatistik zustande. Und trotzdem bringen nur elf Prozent der betroffenen jungen Schwedinnen Vergewaltigungen zur Anzeige. Die Statistik könnte also noch höher sein.

Kulturschock Österreich

Als ich mit knapp sieben Jahren von Schweden nach Österreich zog, freute ich mich auf das bevorstehende Abenteuer. Ich dachte, dass Österreich genauso wäre wie Schweden, nur mit mehr Bergen und einer anderen Sprache. Mich erwartete ein Kulturschock, der bis heute anhält.

In Schweden hatte ich viele Freundinnen, mit denen ich Spaß hatte und Unfug getrieben habe. Wir liebten uns, und wir stritten. Laut und mit vielen Argumenten. Wir sahen freches Kinderprogramm im Fernsehen und hatten den Eindruck, dass Mädchen es mit jedem Buben aufnehmen könnten.

Was sich für ein Mädchen gehört

In Wien waren die Mädchen anders. Alle trugen Ballerinas, sexy Tops und sogar kleine Handtaschen – bereits in der Volksschule. Der wildeste Sport, den sie betrieben, war Gummihüpfen. Sie waren sehr damit beschäftigt zu analysieren, was sich für ein Mädchen gehört und was nicht. Wieso wollte man so sein, fragte ich mich und fühlte mich einsam. Lange Zeit hatte ich mehr Spaß mit und teilweise auch mehr Respekt vor Buben als vor Mädchen. Mit der Zeit verstand ich, dass die Mädchen natürlich genauso Aggressionen und einen Willen hatten. Aber sie maskierten diese Gefühle. In den 80er-Jahren mussten Mädchen, die nicht gefällig waren, sehr stark sein, sonst liefen sie Gefahr, gemobbt zu werden.

Mehr Macht

Viele dieser Mädchen sind später selbstbestimmte Erwachsene geworden. Die Zeit war reif, und sie haben ihre Chancen ergriffen. Die meisten von ihnen tragen heute Sneakers statt High Heels. Diese Frauen sind heute um die 40, gehen arbeiten und sind gut vernetzt.

Die Männergeneration hingegen, die dem Glauben anhängt, dass jede ihrer sexuellen, ungustiösen Meldungen frech und charmant sei, ist heute pensionsreif. Ihre Primetime ist vorbei. Und ihre Macht schwindet.

In meiner Generation haben circa 50 Prozent der Frauen Erfahrungen mit sexuellem Missbrauch gemacht. Bis zu 80 Prozent wurden Opfer von sexuellen Belästigungen. Wir alle wissen das und haben es immer gewusst. #MeToo liefert keine neuen Erkenntnisse. Was neu ist: Es wird öffentlich und laut gesagt, und es werden Konsequenzen gefordert, weil Frauen heute mehr Macht haben.

Die Diskussion in Schweden

Die schwedische Tageszeitung "Svenska Dagbladet" veröffentlichte vergangene Woche von 456 Schauspielerinnen Erfahrungsberichte von sexuellen Belästigungen am Arbeitsplatz. Nur wenige Tage darauf gingen Sängerinnen mit ihren Erfahrungen an die Öffentlichkeit. 653 Frauen aus Opern- und Entertainmentwelt gaben ihre Erfahrungen preis.

Die Berichte können so klingen: "Ich war 23 Jahre alt und ruhte mich zwischen den Repetitionen auf einer Matratze aus. Da kam einer der Kapellmeister des Hauses und fragte, ob er mich massieren sollte. Ich empfand die Frage gleich als unangenehm, traute mich aber nicht, Nein zu sagen. Er setzte sich auf mich und fing an, mich zu massieren. Dann holte er sein Ding raus und fing an zu onanieren. Als er kam, hielt er meinen Pullover hoch und spritzte mir auf den Rücken. Bevor die Vorstellung losging, nahm er mich am Arm und sagte, dass er es sehr schön gefunden hatte und dass es unser Geheimnis sei."

Die Schauspielerinnen und Sängerinnen werfen den Regisseuren, Produzenten und der Politik vor, ihre Verantwortung nicht wahrgenommen zu haben, Arbeitsplätze zu schaffen, an denen Frauen sicher sind. Sie fordern, dass Kollegen mit großen Namen, die viel Geld bringen, nicht in Schutz genommen werden dürfen. Auf Twitter teilen sie ein Bild mit schwarzem Hintergrund und weißem Text: "Wir wissen, wer ihr seid." Sie wollen, dass sich etwas ändert. Kultur- und Demokratieministerin Alice Bah Juhnke hat die Chefs der drei größten Theaterbühnen zu sich zitiert. Sie müssen nun protokollieren, von welchen Übergriffen sie gewusst und was sie dagegen getan haben. Ihr Vertrauen in die Leitung der Bühnen sei tief erschüttert, sagt sie.

Dass sich in Schweden mehr Frauen organisiert über #MeToo äußern als in Österreich, liegt wohl nicht darin begründet, dass hier Frauen seltener sexuell missbraucht werden. Es liegt eher daran, dass sexueller Missbrauch im Norden schon viel länger und strenger diskutiert und ernst genommen wird als bei uns.

Und in Österreich

32 Prozent der Österreicherinnen und Österreicher denken, dass eine Vergewaltigung unter bestimmten Bedingungen legitim sei. An den schwedischen Berichten können wir erkennen, wie viele Geschichten wohl auch bei uns noch im Dunkeln liegen. Und das wird noch längere Zeit so bleiben. Daran ist nicht zuletzt die Politik schuld, die jeden Tag aufs Neue zeigt, dass sexuelle Belästigung und sexuelle Gewalt von Männern an Frauen keine besondere Aufmerksamkeit verdienen. Staatsmänner wie Sebastian Kurz und Heinz-Christian Strache verhandeln "die wirklich wichtigen Dinge" und keine "Twitter-Kampagnen".

Welcher Politiker hat sich in den vergangenen Tagen konkret zu #MeToo geäußert und politischen Handlungsbedarf festgestellt? Das ganze Land diskutiert über #MeToo. Millionen von Menschen sind betroffen – aber die Politik fühlt sich nicht angesprochen. Als sei sexuelle Belästigung eine reine Privatsache.

Der schwedische Ministerpräsident Stefan Löfven kann es hingegen nicht fassen: "Das Problem ist so viel größer, als man jemals gedacht hätte. Es muss jetzt ganz klar etwas Radikales geschehen! Arbeitgeber müssen Verantwortung übernehmen." In Schweden mussten bereits mehrere sehr bekannte und beliebte Kolumnisten, Moderatoren und Chefredakteure ihre Sessel räumen. Es gab große Demonstrationen auf Stockholms Straßen. Das Motto der Frauen lautet: "Männer, ihr seid das Problem. Löst das Problem!"

Schwedens Politik hat ein großes Problem mit sexistisch agierenden Männern, weil sie nicht wegschaut und etwas dagegen tun will. In Österreich hingegen hat die Politik kein Problem damit. (Patrice Fuchs, 16.11.2017)