NDR-Journalistin Anja Reschke über ihren Kommentar in der Flüchtlingskrise 2015: "Der Kommentar hat mich in eine Position als Projektionsfläche katapultiert, und ich wurde für all das verantwortlich gemacht, womit Menschen politisch nicht einverstanden sind."

Foto: NDR/Thomas Pritschet

Wien – Durch ihre "Zivilcourage gegen Hetze im Netz" habe Anja Reschke (45) gezeigt, wie wichtig es sei, dass Journalismus für die Grundwerte einer Gesellschaft eintrete. So lautet die Begründung, warum die Journalistin des Norddeutschen Rundfunks (NDR) heuer die Theodor-Herzl-Dozentur – benannt nach dem Wiener Journalisten Theodor Herzl – für Poetik des Journalismus am Institut für Publizistik- und Kommunikationswissenschaft der Uni Wien übernimmt. Ab 20. November doziert die Leiterin der NDR-Innenpolitik und Moderatorin ("Panorama", "Zapp") dreimal montags von 11.30 bis 13 Uhr im Audimax der Uni Wien.

STANDARD: Ein Thema Ihrer Herzl-Dozentur ist Haltung: Ihr Kommentar "Dagegenhalten, Mund aufmachen" hat in der Flüchtlingskrise 2015 für viel Zustimmung, aber auch für jede Menge Kritik gesorgt. Würden Sie das heute noch einmal in der Form machen?

Reschke: Ja, meine Haltung dazu hat sich nicht geändert. Ich fand und finde bis heute, dass eine rein rassistische Betrachtung von Menschen, die nicht in Deutschland geboren sind, eine Diskriminierung ist, die sich dieses Land nicht leisten sollte. Dagegen sollte man sich auflehnen. Denn wohin das führt, wissen wir alle. Ich würde diesen Kommentar wieder so sprechen.

STANDARD: Haben Sie mit diesen heftigen Reaktionen gerechnet?

Reschke: Nein, denn wenn man den Kommentar auf den Kern zurückführt, dann geht es darum, Menschen nicht wegen ihrer Herkunft zu diffamieren, ihnen nicht den Tod nur aufgrund einer anderen Hautfarbe zu wünschen. Ich dachte, das ist selbstverständlich und so klar in unserer DNA, dass das gar nicht mehr gesagt werden muss. Deswegen war ich auch vollkommen überrascht von den heftigen Reaktionen, auch wenn er ein bisschen provokativ war, weil ich gesagt habe: Ich freue mich auf Ihre Kommentare.

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STANDARD: Aus den Kommentaren wurden Drohungen.

Reschke: Der Kommentar hat mich in eine Position als Projektionsfläche katapultiert, und ich wurde für all das verantwortlich gemacht, womit Menschen politisch nicht einverstanden sind. Die Politik war zu dem Zeitpunkt gerade abwesend – aufgrund der Sommerpause und weil sich keiner nach draußen gewagt hatte. Plötzlich war ich diejenige, an der man sich abarbeiten konnte. So kam eine unglaubliche Wut und ein Hass auf, der tatsächlich mit Morddrohungen und Herabwürdigungen einherging. Gerade mir als Frau hat man dann Vergewaltigungen gewünscht und dass ich mir doch die ganzen Muslime ins Bett holen soll. Es gab auch Drohungen nach dem Motto: Wenn ich noch mal moderiere, bringt man mich um.

STANDARD: Als Frau ist man diesen Angriffen noch verstärkt ausgesetzt.

Reschke: Es kamen viele Dinge zusammen. Auf der einen Seite geht es um Identitäten, was deutsch ist und was nicht. Und irgendwie das Bedürfnis, einen "homogenen Volkskörper", den es gar nicht gibt, rein zu halten. Dann spielen natürlich Dominanz und Macht eine Rolle. Die meisten Angriffe kamen von Männern. Nach dem Motto: Wo kommen wir denn da hin, wenn jetzt eine Frau mit so einer Haltung nach außen tritt. Das hatte schon was von: "Mäuschen, du machst jetzt den Mund zu." Und dann kommen da so archaische Ängste hoch, etwa dass fremde Männer ihnen die Frauen wegnehmen.

STANDARD: Mit solchen Beschimpfungen und Drohungen in sozialen Netzwerken ist auch Ihre ZDF-Kollegin Dunja Hayali konfrontiert. Gab es die Überlegung, sich ein Stück weit zurückzuziehen?

Reschke: Dunja Hayali ist in sozialen Netzwerken viel aktiver als ich. Ich bin Moderatorin und Journalistin, und wenn ich sage: Okay, ich halte mich aus der Debatte heraus und ziehe mich zurück, dann kann ich meinen Beruf nicht mehr ausüben – als Person, die mit Stimme und Gesicht auftritt. Natürlich gab es Momente, in denen ich dachte: Oh Gott, halte ich das durch? Aber dann hätten genau die gewonnen, die mir ja den Mund verbieten wollten.

STANDARD: Wie neutral kann und muss Journalismus sein? Diese Frage stellt sich vor allem für eine Moderatorin eines öffentlich-rechtlichen Senders.

Reschke: Dass es etwas ultimativ Objektives gibt, ist zwar ein frommer Wunsch, aber nicht zu erfüllen. Jeder Journalist geht wie jeder Mensch mit einer Haltung an ein Thema heran. Was aber nicht bedeutet, dass es nicht unsere Aufgabe ist, nicht auch die andere Seite zu recherchieren und darüber zu berichten. Für mich kann ich sagen, dass etwas zum Gegenstand der Berichterstattung wird, wenn es der Demokratie schadet. Ich empfinde einen Auftrag, an den Grundfesten dieses Landes mitzuarbeiten und sie zu verteidigen. Pathetisch formuliert: Man kann unsere Beiträge an den Artikeln unseres Grundgesetzes deklinieren. Werden Minderheiten verletzt, Machtpositionen ausgenutzt, Menschen wegen ihrer Herkunft, ihres Geschlechts, ihrer Religion diskriminiert?

STANDARD: Und diese Grundhaltung artikulieren Sie auch?

Reschke: Ja, ich finde es wichtig, diese Haltung den Zusehern oder Lesern transparent zu machen. Es ist ein Problem, wenn Nachrichten in einem vermeintlich objektiven Gewand daherkommen, letztendlich aber auch eine Haltung transportieren. Wir müssen öfter darüber reden, dass der Wunsch nach Objektivität nicht erfüllt werden kann, auch nicht in einer Nachrichtensendung. Allein schon durch die Auswahl der Themen ist es nicht mehr objektiv. Jeder wird eine andere Auswahl treffen.

STANDARD: Muss diese Auswahl transparenter gemacht werden?

Reschke: Journalisten waren über Jahrzehnte gewohnt, dass sie einfach senden oder schreiben und das dem Leser oder Zuseher vorsetzen. Aber über Jahre haben sich in Deutschland mündige Bürger herausgebildet, das ist sehr positiv. Die hinterfragen aber Dinge eben auch. Unsere Aufgabe ist viel mehr, jetzt zu erklären, wie wir auf eine Recherche, einen Bericht oder eine These kommen und wie wir zu einem Thema stehen.

STANDARD: Facebook ist ein wichtiger Rück- und Verbreitungskanal für Medien. Warum sind Sie dort nicht aktiv?

Reschke: Ich finde nicht, dass ich soziale Netzwerke permanent mit meiner Meinung penetrieren muss. Der Fokus soll auch nicht auf meiner Person liegen, sondern auf den Themen. Mir fehlt die Lust, einen Social-Media-Starkult zu betreiben. Auf Twitter kommentiere ich zwar manches oder leite Tweets, die ich interessant finde, weiter, mache das aber sehr ausgewählt. Dazu kommt noch der Zeitfaktor. All die Kommentare, die kommen, muss man bei Facebook zum Beispiel ja moderieren. Und bei politisch polarisierenden Themen tummeln sich im Netz sehr rüde Menschen mit einem krassen Ton, den ich mir auch nicht dauernd geben muss. Dieser kleine Teil der Bevölkerung bekommt eine enorme Aufmerksamkeit. Bewege ich mich zu viel in sozialen Netzwerken, wächst mein Bedürfnis, mich wieder mit realen Menschen auszutauschen, damit ich nicht einen falschen Eindruck von der Stimmung bekomme.

STANDARD: Laut einer Studie veröffentlichen nur drei Prozent der Leser, Hörer oder Zuschauer ihre Meinung zu bestimmten Inhalten in sozialen Medien, dennoch erhalten sie in der öffentlichen Wahrnehmung enormes Gewicht.

Reschke: Wenn man 20 Kommentare liest, die übel sind, hat man natürlich schnell den Eindruck, dass alle anderer Meinung sind, dass alle einen ablehnen. Im Kopf lässt sich das schwer trennen. Man muss sich klarmachen, dass das nicht die Mehrheit ist, dennoch bleibt ein schales Gefühl. Das ist nicht so gesund.

STANDARD: Was bleibt: Viele Medien haben ein Glaubwürdigkeitsproblem.

Reschke: Im Rahmen der Herzl-Dozentur habe ich Beispiele gesucht und festgestellt, dass Medien neben wirklich vielen herausragenden, sauber recherchierten Artikeln und Beiträgen auch oft unsauber arbeiten. Es gibt schon viele handwerkliche Fehler oder knallige, aber irreführende Schlagzeilen. Die Arbeitsverdichtung und der Druck, journalistische Produkte verkaufen zu müssen und in der Online-Welt schneller als der andere zu sein, spielen da sicher eine Rolle. Hier müssen wir aufpassen, denn wenn die Glaubwürdigkeit einmal verschenkt ist, dann ist der Schaden für die gesamte Gesellschaft immens.

Ohne Pressevielfalt frage ich mich, wie sich die Gesellschaft vernünftig informieren soll. Der Vorwurf, gesteuert zu sein oder einseitig zu berichten, kommt ja immer nur bei bestimmten Themen. Niemand schimpft uns Lügenpresse, wenn wir beispielsweise über Steuerschlupflöcher der Reichen berichten. Da habe ich noch nie den Vorwurf gehört, das sei einseitig. Beim Thema Flüchtlinge, Ausländer, Feminismus oder damals bei der Ukraine-Krise sieht es hingegen anders aus. Das hat schon sehr viel mit politischer Haltung und Meinung zu tun.

STANDARD: Hier wird einem sofort das Wort Lügenpresse entgegengeschmettert?

Reschke: Ja, und an dieser Stelle muss ich immer Alexander Gauland (AfD-Politiker, Anm.) zitieren, der mir mal auf die Frage, ab wann er uns nicht mehr Lügenpresse nennen würde, geantwortet hat: Sobald Sie in einem Kommentar aussprechen, dass Sie in diesem Land keine Flüchtlinge mehr wollen. Da ist ganz klar, dass er seine Meinung hören möchte. Ich nehme inzwischen auch eine Erwartungshaltung, gerade gegenüber dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk, wahr, die da lautet: Ich bezahle dich von den Gebühren, also berichte so, wie ich es möchte. Das ist eine völlige Verkehrung von Journalismus, sie nimmt aber leider zu.

STANDARD: ARD und ZDF werden oft, zuletzt vom "Spiegel" und dem Axel-Springer-Verlag, als "Staatsfunk" bezeichnet, jetzt wehren sich die Redakteure lautstark dagegen. Sehen Sie das als gezielte Diskreditierung, um die Glaubwürdigkeit zu beschädigen?

Reschke: Ich empfinde das als gefährliches Spiel einiger Verleger und Journalisten. Auf den Begriff "Staatsfunk" reagieren wir empfindlich, weil das nichts anderes heißt, als dass wir die PR-Abteilung der Regierung wären und sozusagen eins zu eins das verlautbaren, was "der Staat" will. Das ist natürlich völliger Unsinn. Die Gründerväter des öffentlich-rechtlichen Rundfunks haben sich nach den Erfahrungen der NS-Zeit wirklich viel Mühe gegeben, den Rundfunk möglichst staatsfern zu organisieren. Eben weil Parteien und Politiker natürlich immer wieder ein Interesse haben, den Rundfunk zu kontrollieren.

Dass das eine oder andere Gremium deshalb auch anders besetzt werden muss, ist ja verfassungsrechtlicher Auftrag. Aber der Begriff Staatsfunk ist trotzdem völlig deplatziert. Die Öffentlich-Rechtlichen als einen institutionalisierten verlängerten Arm der Regierung zu diskreditieren ist gefährlich und redet jenen das Wort, die den Journalisten insgesamt Lügenpresse entgegenschleudern. Das treibt die Glaubwürdigkeitsdebatte immer weiter und beschädigt am Ende den gesamten Journalismus.

STANDARD: Befeuert durch Konkurrenzkampf?

Reschke: Als Journalisten sind wir alle in einer relativ schwierigen Situation und müssen uns die Frage stellen: Wie erhalten wir den Journalismus in den nächsten Jahren, wie bringen wir Themen an die Leser und Zuschauer. Da ist es nicht sehr förderlich, wenn wir uns gegenseitig mit Dreck bewerfen.

STANDARD: Verleger vertreten Eigeninteressen, die mit jenen der ARD und des ZDF kollidieren – etwa welche Angebote im Internet erlaubt sein sollen und welche nicht.

Reschke: Ja, nur: Das schreiben sie nicht in den Artikeln. Ich finde die Debatte sehr unehrlich. Man führt ein Scheingefecht über die vermeintliche Reformunfähigkeit oder Parteiabhängigkeit der öffentlich-rechtlichen Sender. In Wirklichkeit geht es aber darum: Wer wird in Zukunft im Netz gelesen und gesehen? Dann soll man eine ehrliche Diskussion darüber führen, da soll sich der Leser und Zuseher eine Meinung bilden, was der öffentlich-rechtliche Rundfunk im Internet darf und was nicht und wo er eine zu große Konkurrenz ist. Ich verstehe die Situation der Verlage, die Geld verdienen müssen mit ihren Produkten. Aber ich verstehe nicht, warum man diese Debatte mit diskreditierenden Begriffen wie "Staatsfunk" führen muss.

STANDARD: Eine weitere Schlüsselfrage ist die künftige Finanzierung von Journalismus. Wohin geht die Reise?

Reschke: Das ist eigentlich erst die zweite Frage. Das größte Problem des Journalismus ist: Erkennen Menschen den Wert von Journalismus, und wissen sie, warum er für sie und die Gesellschaft, die Demokratie wichtig ist? Ist das nicht mehr der Fall, werden sie auch nicht dafür bezahlen. Wenn Qualitätsjournalismus kein wichtiges Gut ist, für das man Geld ausgeben möchte, dann haben wir alle ein Problem. Die Frage ist, ob den Leuten Pressefreiheit, Medienvielfalt und gut recherchierte Geschichten genügend wert sind.

Die Populisten sind ja dann schnell der Meinung, dass man das nicht mehr haben müsste, denn das Internet gebe ja alles an Informationen her. Aber zum einen füttert sich das Netz nicht von alleine, und zum anderen halte ich es für sehr gefährlich, sich darauf zu verlassen, dass der Markt die Qualität von Informationen regelt. Wir wissen ja, wie schwer sich gute journalistische Blogs oder Veröffentlichungen bei der Finanzierung tun. Also den Wert von Journalismus zu vermitteln, das ist unsere größte Herausforderung. (Oliver Mark, 17.11.2017)