Das Bürgertum bewohnte im Wien um 1900 die Beletage. Im Winter wurde nur das Wohnzimmer beheizt.

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Für Gerhard Halusa war städtischer Wohnbau die größte Zäsur der letzten hundert Jahre.

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Vor hundert Jahren lebten viele Wiener in winzigen Wohnungen ohne Wasser oder WC. Spekulation war weit verbreitet. Die Mieten waren entsprechend hoch, die Wohnqualität niedrig, sagt der Wiener Wohnhistoriker Gerhard Halusa.

STANDARD: Angenommen, wir würden jetzt durch ein Wiener Arbeiter-Mietshaus um 1900 spazieren. Wie würde es uns ergehen?

Halusa: Es wäre vor allem für unsere Nase ein furchtbares Erlebnis. Damals lebten sechs bis sieben Menschen in einem Raum. Sie trugen die ganze Woche die gleiche Kleidung, gewaschen hat man sich auch nicht oft. Eine Wohnung – im Normalfall handelte es sich um Zimmer-Küche-Wohnungen, manchmal um Zimmer-Küche-Kabinett-Wohnungen – war im Durchschnitt 20 bis 22 Quadratmeter groß. In einer Ecke stand der Nachttopf, den man zum Ausleeren hinunter zum Plumpsklo im Hof trug. Die Wohnungen hatten Gangküchen, das heißt, aus der Küche wurde hinaus in den Gang gelüftet. Wir würden also riechen, was in den drei Stockwerken über uns gekocht wird. Und in Wien gab es obendrein 40.000 Pferde, das heißt, es hat auch auf der Straße wohl nicht gerade angenehm gerochen.

STANDARD: Wie war das Wohnen im Winter?

Halusa: Wer es sich leisten konnte, verwendete zum Heizen Kohle oder Koks. Die Ärmeren heizten ihren Herd mit Holz, das sie zum Beispiel im Wienerwald sammelten. Auch im Bürgertum wurde nicht jedes Zimmer geheizt. Da saß die Familie im warmen Wohnzimmer zusammen. Das Familienleben war auf einen Raum konzentriert.

STANDARD: Wie wurden die Wohnungen beleuchtet?

Halusa: Ab den 1890er-Jahren gab es Gasbeleuchtung, da wurde Wien etwas heller. Vorher gab es nur Petroleumlampen, die aber stark gerußt haben. Kerzen waren sehr teuer. Meistens ging man daher mit der Dunkelheit ins Bett.

STANDARD: Wie wohnte das Bürgertum?

Halusa: Bürgertum und Adel bewohnten zum Teil ganze Stockwerke, meist die Beletage. Da gab es viele Räume, darunter Esszimmer, Spielzimmer, Rauchzimmer, Schlafzimmer. Darunter waren Ställe oder Räumlichkeiten für die Diener untergebracht. In der Gründerzeit durfte laut Bauordnung nur drei Stockwerke hoch gebaut werden. Daher tricks- ten die Bauherren mit Mezzaninen und Halbstöcken.

STANDARD: Die ersten Mietgesetze gab es erst nach dem Ersten Weltkrieg. Wie war die Situation für die Mieter davor?

Halusa: Vor dem Ersten Weltkrieg war Wohnen in Wien ein Riesengeschäft für Investoren. Nach eineinhalb Jahren hatten die schon 200 Prozent vom in ein Haus investierten Kapital hereingespielt. Das war private Spekulation und kam vor allem den Begüterten zugute. Die Arbeiter gaben bis zu zwei Drittel ihres Lohnes für das Wohnen aus, also im Verhältnis noch mehr als heute. Damals wurde jeder Millimeter verbaut, wirkliche Baustandards gab es nicht. In der Zwischenkriegszeit wurde dann versucht, per Gesetz den Mietanstieg einzubremsen, aber die Vermieter nutzten eine Hintertür und erhöhten stattdessen die Betriebskosten.

STANDARD: Wie schaute es mit Sanitäreinrichtungen aus?

Halusa: Beim Bürgertum wurde meist einmal in der Woche gebadet. Dafür wurde eine Badewanne meist von einem "Badeknecht" gebracht. Dann badete erst der Vater, dann Mutter, Kinder und Dienstboten. Allesamt im gleichen Wasser und in Badebekleidung. Die Bassena auf dem Gang war um 1900 etwas Besonderes. Man war froh, dass man zum Wasserholen nicht mehr hinunter in den Hof gehen musste. Auch das WC auf dem Gang hielt ab 1900 Einzug, zumindest beim Bürgertum.

STANDARD: Und bei den Arbeitern?

Halusa: Mit den Gemeindebauten in der Zwischenkriegszeit. Der städtische Wohnbau ist für mich die größte Zäsur im Wohnbau der letzten hundert Jahre. Da wollte die Stadt Wien als einziges rotes Bundesland zeigen, wie man es richtig macht. Da gab es auch bereits WCs in den Wohnungen und Waschsalons in der Anlage. Außerdem wurde erstmals auch Wert auf Freiflächen gelegt. Es gab ein Umdenken, plötzlich wurde wichtig, dass die Mieter es schön haben. Alle Arbeiter wurden davon natürlich nicht erreicht. Viele blieben in ihren ärmlichen Wohnverhältnissen mit Untermietern und Bettgehern.

STANDARD: Wie kann man sich den Wohnalltag dort vorstellen?

Halusa: In der Küche stand höchstens ein Bett, da lagen bis zu sieben Leute drinnen. Einige Kinder schliefen auf Strohsäcken auf dem Boden. Es gab sogar große Schubladen, die man aufzog und in die man die Kinder legte. Eine ältere Dame hat mir bei einer Führung einmal erzählt, dass sie in ihrer Jugend auf einem Bügelbrett geschlafen hat, das zwischen zwei Stühle gelegt wurde. Die meisten Böden waren aus Stein, das war im Winter natürlich extrem kalt. Falls die Wohnung über ein Kabinett verfügte, hat man das untervermietet. Und wenn die Eltern in der Früh in die Arbeit gingen, kam ein Schichtarbeiter, der sich ins warme Bett legen konnte.

STANDARD: Und die Kinder?

Halusa: Für Kinder war in diesen Wohnverhältnissen kein Platz. Die haben mehr Zeit beim Spielen auf der Straße verbracht als in der Wohnung. Auch wenn man am Sonntag freihatte, blieb man nicht in der Wohnung, sondern ging ins Grüne, in den Prater oder zum Wienerberg zum Beispiel. Die Leute hatten ein Dach über dem Kopf, aber gelebt wurde in den Wohnungen nicht.

STANDARD: Kann man aus der Zeit überhaupt etwas lernen?

Halusa: Die Umstände werden heute oft verklärt. Was aber stimmt: Damals gab es viel mehr Zusammenhalt in der Hausgemeinschaft. Wenn man ärmer ist, ist man mehr aufeinander angewiesen. Dieses Miteinander ist uns, glaube ich, verlorengegangen. (18.11.2017)