Pädagogin und Familientherapeutin Katharina Saalfrank will Eltern ermutigen, ohne Machtkämpfe den Familienalltag zu bestreiten.

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Wer sagt eigentlich, dass wir Kinder bestrafen müssen?

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STANDARD: In Ihrem neuen Buch "Kindheit ohne Strafen" ermutigen Sie Eltern, Konflikte mit Kindern ohne Strafen und Sanktionen zu lösen. Was bewirken Strafen bei Kindern?

Saalfrank: Strafen demütigen und machen den anderen klein. Strafen und sanktionierendes Verhalten prägen die Beziehung im Sinne von "Wie du mir, so ich dir" oder auch "Wenn du mich ärgerst, ärgere ich dich zurück". Die Botschaft für das Kind ist fatal, nämlich: Du hast meine Grenze übertreten – deine Grenze ist mir aber nichts wert!

STANDARD: Was bedeutet das für das Kind?

Saalfrank: Das Kind wird so als Person infrage gestellt, und langfristig wird sein Selbstwert beschädigt. Durch Strafen bewerten wir ausschließlich das unerwünschte Verhalten und erfahren nichts über die Beweggründe und die innere Not des Kindes. Im Gegensatz zu einem Erwachsenen kann es seine Gefühle noch nicht benennen. Es kann nicht sagen: "Das ärgert mich richtig!" oder "Das macht mich traurig" oder auch "Du fehlst mir".

STANDARD: Ist es fehlende Empathie und Wertschätzung, die Eltern Kinder strafen lässt?

Saalfrank: Eltern, die ihre Kinder strafen, wurden in ihrer Kindheit selbst gestraft und wiederholen diese Muster. Wenn kleine Menschen auf die Welt kommen und Demütigung und Zurückweisung erleben, dann entsteht Aggression. Auf dem Weg zum Erwachsenwerden verlieren sie die Fähigkeit, sich in andere einzufühlen. Das ist aber die Voraussetzung für Empathie. Meine Aufgabe in der Eltern- und Familienberatung ist es, Eltern zu öffnen und die Empathie für sich selbst und ihre Kinder wiederzuentdecken. Das ist oft ein schmerzhafter und berührender Prozess.

STANDARD: Manche Eltern argumentieren, dass es für Kinder wichtig ist zu lernen, dass ihr Verhalten Konsequenzen hat. Was halten Sie von solchen Ansagen?

Saalfrank: Kinder erfahren immer, dass ihr Handeln eine Folge hat. Die Frage ist, ob wir manipulativ eingreifen. Wenn ein Kind zum Beispiel im Winter ohne einen warmen Mantel nach draußen geht, dann wird es wahrscheinlich frieren. Das wäre die "natürliche" Folge. Wenn die Eltern allerdings verfügen, dass das Kind zu Hause bleiben muss, weil es nicht auf sie gehört hat, dann ist das eine Strafe. Die Eltern greifen aktiv ein und behaupten, dass die verhängte Konsequenz die natürliche Folge des kindlichen Verhaltens sei. Das stimmt schlicht nicht.

STANDARD: Manchmal fühlen sich Eltern müde und überfordert. Dann ist es verführerisch, im Alltag die berühmten Wenn-dann-Konstruktionen einzusetzen: "Wenn du jetzt nicht aufräumst, darfst du später nicht fernsehen." Welches Verhalten fördern Eltern damit?

Saalfrank: Eltern stellen so eine druckvolle Atmosphäre her, spielen ihre Macht aus und setzen auf ihre Überlegenheit. Kinder spiegeln unser Verhalten und die Atmosphäre in der Beziehung häufig wieder. Nicht selten berichten Eltern, dass ihre Kinder dann in Konfliktsituationen selbst mit Wenn-dann-Sätzen agieren. Kinder sagen dann: "Wenn du mir jetzt nichts vorliest, dann geh' ich nicht ins Bett." So wird Zusammenleben an jeder Ecke zu einem Machtkampf.

STANDARD: Das Wenn-dann Prinzip funktioniert auch umgekehrt, mit Belohnung statt Drohung: "Du bekommst später ein Eis, wenn du jetzt deine Spielsachen aufräumst."

Saalfrank: Im juristischen Sinne handelt es sich bei den Wenn-dann-Sätzen schlicht um Nötigung. In der Regel kann man das Problem auch anders lösen, als Druck in alle Richtungen aufzubauen. Sie können in einem ruhigen Moment zu Ihrem Kind sagen: "So möchte ich es nicht mehr, kannst du dich erinnern, das letzte Mal lief das und das nicht so gut? Was meinst du, wie könnten wir es in Zukunft machen, hast du eine Idee?" Auch Eltern dürfen Ideen entwickeln und Vorschläge machen und mit diesen dann im Alltag experimentieren.

STANDARD: Strafe und Belohnung sind also ähnlich manipulative Erziehungsmethoden?

Saalfrank: Ja. Dass das Belohnen und Loben manipulativ ist, ist manchen Erwachsenen nicht klar. Es klappt ja auch so gut und ist auf den ersten Blick effektiv. Allerdings: Wenn wir unsere Kinder kontrollieren und belohnen, agieren sie irgendwann nicht mehr aus sich selbst heraus. Ihr eigener Entwicklungsmotor gerät ins Stocken, sie verlassen sich mehr auf Motivation von außen. Eigene Impulse werden aufgegeben und verkümmern. Und: Belohnungen sind ein manipulativer Umgang mit Kindern und letztlich eine Form der Bestrafung. Denn lassen wir die Belohnung weg, kommt es einer Strafe gleich.

STANDARD: Viele Eltern versuchen Kinder auf der Vernunftebene zu erreichen – und reden mit ihnen wie mit Erwachsenen.

Saalfrank: Es geht vor allem darum, dass wir aufhören, auf Kinder einzureden und ihnen lang und breit zu erklären, warum wir etwas wollen oder auch nicht – oft übrigens mit der unbewussten Erwartung, dass das Kind uns zustimmt und dann doch bitte einlenkt. Es ist immer ein humorvoller Moment, wenn ich das mit Eltern bespreche, denn sie merken in diesem Moment, dass ihre Erwartung völlig unrealistisch ist. Die Bereiche für die Kognition, also auch für die Vernunft entwickeln sich später – zunächst heißt es Emotion vor Kognition. Wir können Kinder also grundsätzlich eher über das Gefühl als über die Vernunft erreichen. Eine wichtige Erkenntnis, denn unser Bestreben, sie auf der kognitiven Vernunftebene zu erreichen, ist deshalb tatsächlich oft vergeblich. Das kindliche Gehirn kann diese Anforderung noch nicht erfüllen und die Informationen nicht entsprechend verarbeiten.

STANDARD: Wie können Eltern stattdessen erreichen, dass ihre Kinder auf sie hören?

Saalfrank: Indem Eltern eine klare, verantwortungsvolle und wertschätzende Führungsrolle übernehmen. In der Familie spielt die Nähe untereinander eine große Rolle. Es geht um Liebesbeziehungen. Das heißt, wir dürfen auch in der Kommunikation ganz persönlich sein: Nur wenn ein wertschätzender Dialog gelingt, können alle Familienmitglieder ihre Bedürfnisse, Wünsche und Sorgen ansprechen und werden mit ihren Anliegen gehört. Es geht um eine Haltung zum Menschen, ganz grundsätzlich. (Christine Tragler, 24.11.2017)