Ist die sozialdemokratische Idee gestorben?

Foto: APA/EXPA/ JOHANN GRODER

In den 28 Staaten der EU gibt es nur noch sieben sozialdemokratisch geführte Regierungen: Malta, Schweden, Portugal, Rumänien, Italien, Slowakei – und, wohl nur noch kurz, Österreich. Sozialdemokratische Parteien wurden abgewählt (Österreich, Frankreich, Deutschland, Tschechien) und entweder durch neoliberale Ich-Bewegungen ersetzt (Frankreich mit Macron, Österreich mit Kurz) oder schon länger von autoritären Nationalpopulisten weggefegt (Polen, Ungarn, Tschechien).

Der britische Autor und Politikwissenschafter Timothy Garton Ash konstatiert knapp: "Der Nationalpopulismus flutet den Westen." Der italienische Rechtspopulist Matteo Salvini von der Lega Nord (im EU-Parlament in einer Fraktion mit der FPÖ) empfahl höhnisch, die Linke solle begreifen, dass nicht sie, sondern die Rechten heute die "Champions der Arbeiterklasse" seien.

Bild nicht mehr verfügbar.

Rechte Parteien buhlen um die Gunst der Arbeiterinnen und Arbeiter.
Foto: Getty Images/Caiaimage

Der Milliardär Trump, der von frustrierten weißen Arbeitern in die Präsidentschaft gehoben wurde, ist ein ähnliches Phänomen wie die von elitären "akademischen Burschenschaften" dominierte FPÖ, die von 58 Prozent der Arbeiter gewählt wurde (ein Zuwachs von 26 Prozentpunkten gegenüber der Wahl 2013; dagegen wurde die "Schlagende Verbindung"-FPÖ laut Sora-Wahlanalyse nur von sieben Prozent der Akademiker gewählt).

Das "wahre Volk"

Soll heißen: Im Vormarsch sind politische Bewegungen, die erstens behaupten, nur sie allein seien das "wahre Volk" und die Rettung aus der Misere bestehe nur in der Rückkehr zur einzig wahren, autochthonen "Volksgemeinschaft"; die zweitens unter "Europa" den Rückbau der EU in eine lose Vereinigung der "Vaterländer" verstehen – und die drittens letztlich eine "illiberale Demokratie" errichten wollen, in der zwar gewählt wird, aber die wahre Macht bei einem starken Führer liegt, der sich und ein illiberales geistiges Klima durch regelmäßige Volksabstimmungen über populistische Themen absichert.

Der Autor Philipp Blom ("Was auf dem Spiel steht") spricht von den Wählern der Rechtspopulisten als einer "ängstlichen Klasse". Die Analytikerin Martina Zandonella vom Sora-Institut (das unter anderem für den ORF die Nachwahlanalysen erstellt) weist unter dem Titel "Normalisierung nach rechts" darauf hin, dass Arbeiter und Angestellte und Selbstständige ohne Matura (bei denen Türkis-Blau die Mehrheit hat) das Gefühl hätten, sie könnten mit ihrer Ausbildung nicht mehr am Arbeitsmarkt bestehen, und dass die "Multioptionsgesellschaft", in der jeder individuell sein Leben gestalten könne – oder muss –, zu anstrengend sei. Und: Österreich sei "ungerecht".

Sozialer Kampf

Wo bleibt bei alledem die Linke? Was bedeutet heute noch links? Das linke Spektrum erstreckt sich vom demokratischen Sozialismus über den Linkssozialismus und die radikale Linke (Steinewerfer beim Treffen der G20 in Hamburg) bis zum Kommunismus. Aber mit der "Linken" meint man heute vor allem den sozialdemokratischen Mainstream in Europa.

Links ist aber gemäß der Überzeugung aller sozialdemokratischen Denker und Politiker nach wie vor der Kampf um die "soziale Frage". Der ehemalige SPÖ-Vorsitzende Franz Vranitzky, der letzte erfolgreiche SPÖ-Kanzler, sagte kürzlich in einem STANDARD-Interview: "Die sozialdemokratische Idee ist ja nicht gestorben – sozialer Ausgleich, soziale Sicherheit, das gilt ja unbestrittenermaßen noch."

Noch. Sicherheit, existenzielle Geborgenheit: Das war – neben Freiheit und Solidarität – die Essenz der sozialdemokratischen Linken, die ganze zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts hindurch. Das Problem des beginnenden 21. Jahrhunderts besteht darin, dass diese Sicherheit gleichzeitig erfüllt und gefährdet scheint.

Arbeiter für Jörg Haider

Die (westeuropäische) Sozialdemokratie stand zunächst auf einer mächtigen Säule: dem vollausgebildeten, voll gewerkschaftlich organisierten Vollbeschäftigungs- und Wohlfahrtsstaat. Es gab einen Deal zwischen der Sozialdemokratie und den "werktätigen Massen": Wir bieten euch gute Jobs im öffentlichen Sektor, einen ausgebauten Sozialstaat, sichere Pensionen, billige Sozialwohnungen – ihr wählt uns. Und tretet der Gewerkschaft bei.

Im Österreich der Kreisky-Jahre erreichte dieses Modell mit der Schaffung eines mächtigen, von der Stahlindustrie (Voest) gekrönten Verstaatlichtenkonzerns seinen Höhepunkt. Die Verstaatlichte sollte "Flaggschiff" der übrigen Industrie sein, der Belegschaft hohe Sozialleistungen bieten und der Gewerkschaft und "der Partei" Einfluss. Das war aber unökonomisch. Mitte der 80er-Jahre musste die Verstaatlichte mit 100 Milliarden (Schilling) gerettet und anschließend redimensioniert werden. Damit war aber der Deal zwischen der Sozialdemokratie und den Unselbstständigen zu Ende. 1986 übernahm Jörg Haider die FPÖ, und die Arbeiter begannen zu ihm hinzudriften. Die Finanzkrise, die Globalisierung und auch die Ostöffnung der EU beschleunigten das.

Katholisch vermufftes Österreich

Es gab und gibt aber noch eine zweite Säule der Linken, die kulturelle, den "Überbau". "Links" bedeutete auch "gesellschaftlich progressiv", ja permissiv, linksliberal. Das betraf nicht unbedingt die Arbeiterschaft im engeren Sinn, in der es oft patriarchalisch und autoritär zuging. Aber die dann doch studierenden Kinder der Arbeiter, vor allem aber die jüngeren Angehörigen von Intelligenzberufen, die sich von der Sozialdemokratie im Allgemeinen und von Kreisky im Besonderen angezogen fühlten, prägten bald das Bild einer linken Avantgarde. Es begann mit Nachholaktionen, mit einem modernen Familienrecht in einem katholisch vermufften Österreich, mit zögernder Akzeptanz von langen Haaren und Homosexualität, mit der Frauenemanzipation.

Das sicherte der Linken lange die kulturelle Hegemonie. Das hat sich spätestens mit dem Zuzug von rund 100.000 muslimischen Flüchtlingen 2015/16 geändert; und – mindestens ebenso wirkmächtig – mit dem Sichtbarwerden dauerhafter muslimischer Migration (rund 700.000). Die vermeintliche Hinwendung der "Linken" (Sozialdemokratie und Grüne) zu den Migranten wurde als Verrat an der Arbeiterklasse empfunden. Dazu kommt eine generelle Ablehnung eines alternativen, linken Lebensstils. Was der polnische Außenminister von der rechtskatholischen Regierungspartei PiS beschreibt, ist das neue Feindbild der Rechten: "Ein Mix von Kulturen und Rassen, eine Welt aus Radfahrern und Vegetariern, die nur noch auf erneuerbare Energien setzen und gegen jede Form der Religion kämpfen."

Der Maiaufmarsch der SPÖ am Rathausplatz in Wien.
Foto: Robert Newald

Der renommierte Politikwissenschafter Anton Pelinka arbeitet die neue politsoziologische Lage heraus: "Links und rechts – im Sinne der traditionellen Begrifflichkeit – liegen quer zu dem, was in der US-Debatte 'somewheres' (Donald Trump wählende heimatverbundene, verängstigte Modernisierungsverlierer) gegen 'nowheres' (kosmopolitische Trump- und FPÖ- und Le Pen-Gegner) heißt. Damit tut sich die traditionelle Linke schwer, solange sie noch an der Idee eines die Zukunft bestimmenden Proletariats festhält. Dieses steht heute rechts – links stehen die Bobos der Wiener Innenstadtbezirke. Diese Schwierigkeit erklärt auch das Paradoxon, dass in Österreich 'die Linke' bei der BP-Wahl vor einem Jahr gewonnen und zehn Monate später bei der Parlamentswahl verloren hat."

Wo ist die sozialdemokratische Gegenstrategie?

Die SPÖ hat es, schon unter Werner Faymann, dann unter Christian Kern, mit der "Verteilungsgerechtigkeit" probiert. Die Einkommen sind in Österreich allerdings so gleichmäßig verteilt wie sonst nur in den skandinavischen Staaten, was fast allein eine Folge der Umverteilung durch den Staat mittels Sozialtransfers ist.

Es gibt jedoch eine ominöse Entwicklung: "Die Markteinkommen inklusive Pensionen des obersten Zehntels waren im Jahr 2000 um 10,8-mal so hoch wie die des ärmsten Zehntels. Im Jahr 2010 haben die Markteinkommen inklusive Pensionen des obersten Zehntels hingegen bereits das 23,6-Fache des untersten Zehntels betragen", stellte das Wirtschaftsforschungsinstitut 2016 fest. Und: Die Sozialtransfers glichen das zwar nach wie vor aus – aber nicht ganz.

Da es aber bei den Einkommen nicht mehr viel umzuverteilen gibt (die Abgabenquote ist schon zu hoch), konzentrierte sich die SPÖ unter dem Einfluss linker Ökonomen auf die Vermögen. Über die Dramatik bei der Ungleichheit der Vermögen kann man streiten – aber der Punkt ist: Bei den Wahlen 2017 zogen die Schlager der SPÖ, nämlich Erbschaftssteuer und Vermögenssteuer, einfach nicht. "Hol dir, was dir zusteht" ging unter.

Nicht-mehr-Arbeiterpartei SPÖ

Vielleicht, weil – wie die neue junge Chefin des SPÖ-Thinktanks Renner-Institut, Maria Maltschnig, meint – "die Frage der Identität bei dieser Wahl über der sozialen Frage stand". Identität? Gemeint sind Flüchtlinge, muslimische Flüchtlinge. Wobei Sebastian Kurz die materielle Frage genial mit der Identitätsfrage verband: "Stopp der Einwanderung in unser Sozialsystem".

Allerdings zeigte sich bei der Wahl 2017 vor allem in Wien trotzdem der Effekt, dass gebildetere und liberale Wähler von den Grünen zur SPÖ wanderten – offenbar ausdrücklich, um einen Absturz der SPÖ auf den dritten Platz hinter die FPÖ zu verhindern. Die Nicht-mehr-Arbeiterpartei SPÖ, die zuletzt nur noch eine Partei der Pensionisten und der öffentlich Bediensteten war, hat die liberale urbane Bildungsschicht trotz des Schwenks nach rechts angezogen. Das bedeutete freilich eine Kannibalisierung des "linken" Lagers auf Kosten der Grünen.

Links muss daher heute auch eines bedeuten: eine Antwort auf die Entfremdung der islamischen Zuwanderer zu finden. Die üblichen Law-and-Order-Lösungen sind schon von der Kurz-ÖVP und von der FPÖ besetzt. Das heißt nicht, dass unter links-grünalternativen Intellektuellen nicht auch Illusionen bezüglich der Natur der patriarchalen, autoritären Gesellschaften herrschen oder herrschten.

Emanzipationsarbeit für Zuwanderer

Diese Verblendung muss "die Linke" ablegen. Aber sie muss sich gleichzeitig ihres emanzipatorischen und meinetwegen auch sozialklempnerischen Ansatzes erinnern. Links sein heißt heute unter anderem, auch unter ultrakonservativen und – schlimmer noch – "bildungsfernen" Zuwanderern Emanzipationsarbeit zu leisten. Es geschieht, vor allem in Wien, schon einiges. Aber es ist zu wenig, auch deshalb, weil man es nicht wagt, sich in die Parallelgesellschaften hineinzubegeben (was übrigens auch für den Journalismus gilt). Es ist wieder – wie in den Anfängen der Arbeiterbewegung – Befreiungsarbeit zu leisten, diesmal vor allem bei den jungen muslimischen Frauen (die laut einer Studie des Islam-Instituts am ehesten die Hoffnungsträger sind).

Zweitens: Heute links sein bedeutet, mit Energie und Geschick die autoritären, antidemokratischen und illiberalen Pläne der Nationalpopulisten und wohl auch der Neokonservativen zu bekämpfen.

Die FPÖ hat einen Plan zum Umbau des Staates, der dem Modell der "Dritten Republik" entspricht, wie es Jörg Haider vor zwanzig Jahren entworfen hat. Die Neokonservativen unter Kurz wollen Ähnliches, wenn auch nicht so drastisch. Sie haben auch durchaus akzeptable Ansätze, etwa beim Redimensionieren einer wirtschaftshemmenden Bürokratie.

Aber mit reaktionären Burschenschaftern lässt sich ein Staat nicht modernisieren. Das türkis-blaue Projekt scheint jedenfalls deutlich auf ein weniger liberales gesellschaftliches Klima hinauszulaufen.

Dagegen den Hegemonialkampf im Sinne des Liberalismus zu gewinnen ist möglich, vor allem wenn man die Möglichkeiten der modernen Kommunikation nutzt. Das kann den Linken – und Liberalen – wieder gelingen. Und muss es auch: Das Vertrauen in die Demokratie geht zurück, heute stimmen laut einer Sora-Umfrage 23 Prozent folgender Aussage zu: "Man sollte einen starken Führer haben, der sich nicht um ein Parlament und Wahlen kümmern muss." 2007 waren es lediglich 14 Prozent.

Rasante Veränderungen der Arbeitswelt

Drittens: Niemand weiß eine Antwort auf die (befürchteten und schon spürbaren) Folgen der Digitalisierung für die Arbeitswelt. Laut einer Schätzung der Universität Oxford gehören 47 Prozent aller Arbeitsplätze in den USA zur Hochrisikokategorie, das heißt, "die entsprechenden Arbeitsabläufe sind potenziell und über eine noch ungewisse Zeitspanne, vielleicht über ein oder zwei Jahrzehnte, automatisierbar". Die Antwort der traditionellen Linken, der Gewerkschaften vor allem, ist diesbezüglich fast nur defensiv, bewahrend.

Die junge Linke hingegen stellt die Arbeit überhaupt infrage. Der junge Autor Felix Dachsel schleuderte in der "Zeit" der deutschen Sozialdemokratie seine Missachtung entgegen: "Die SPD hängt an einem eindimensionalen Arbeitsbegriff, der nicht in die Gegenwart passt und nicht in die Zukunft. Es ist doch okay, wenn der Mensch weniger (oder angenehmer) arbeitet. Lasst die Roboter übernehmen und ein System entwickeln, in dem die Existenz weniger an der Lohnarbeit hängt." Das würde also logischerweise bedeuten: Eine Elite von IT-Workern erarbeitet mit Robotern den Mehrwert und der wird dann auf die riesige Mehrheit der Beschäftigungslosen verteilt. Die gesellschaftlichen Folgen einer solchen Zukunft will man sich lieber nicht vorstellen, muss man aber wohl.

Bild nicht mehr verfügbar.

Die Digitalisierung verändert die Arbeitswelt.
Foto: Getty Images/Caiaimage

Aber was ist dann die Antwort (nicht nur der Linken) auf die Robotisierung? Die "Maschinensteuer"? Oder die "Wertschöpfungssteuer"? Christian Kern warf sie ganz am Anfang seiner kurzen Kanzlerschaft in die Diskussion, und sie ging unter wie ein Stein im Wasser. Das Konzept ist einfach nicht genügend ausdiskutiert. Das wäre aber Aufgabe der Linken.

Grundfragen neu stellen

Sie müsste dazu allerdings alle geistigen Ressourcen mobilisieren, um nach Lösungen zu suchen – fast so wie die berühmten "1.400 Experten" Bruno Kreiskys, die ihm dennoch ein Modell der Modernisierung für Österreich entwarfen. Mit Image-Styling auf Instagram und Anbiederungen an die Krawallpresse wird man das nicht schaffen. Die sozialdemokratischen Parteien Mitteleuropas haben hier immensen Nachholbedarf. Wahrscheinlich muss man zumindest gedanklich auch die globale Ungleichverteilung angehen – schon um zu verhindern, dass sich in Afrika und dem muslimisch-arabischen Raum weiter Hunderttausende auf den Weg machen, um ihren "gerechten Anteil" in Europa abzuholen.

Die Antwort der Konservativen darauf ist wiederum nur eine defensive, repressive (Kurz: "Mittelmeerroute schließen"). Die etablierte, saturierte Linke muss sich wohl zunächst aus der Schockstarre des Machtverlusts in den fortgeschrittenen Industriestaaten befreien und beginnen, die Grundfragen neu zu stellen und zu diskutieren. Etwas, was sie schon fast verlernt hat. So unbefriedigend das klingen mag: Die Antwort der Linken auf die drohende rechte Hegemonie muss zunächst wohl darin bestehen, die eigenen Grundlagen neu zu diskutieren.

Philipp Blom über die Kernwerte der Linken: "Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit sind und waren seit ihrer Proklamation keine empirischen Fakten, sondern eine Geschichte, die unsere Gesellschaft über sich selbst erzählte. Sie stirbt und lebt beim Zuhören." (Hans Rauscher, 29.11.2017)