1998 führte die Union einen Wahlkampf gegen die "roten Socken", heute werden diese gern getragen.

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Nach dem Scheitern der Sondierungen für eine Jamaika-Koalition soll nun offensichtlich die SPD mit dem Verweis auf Staatsraison und Verantwortung buchstäblich in eine große Koalition hineingeprügelt werden. Nichts ist gefährlicher als das.

Was es perspektivisch braucht, ist eine progressive Alternative, um drängende Zukunftsfragen anzugehen: Umgang mit Einwanderung und angemessene Integrationspolitik statt Ausgrenzung, die Vermeidung kommender Krisen durch den weiterhin dominanten Finanzmarktkapitalismus. Es steht der sozial-ökologische Umbau der Wirtschaft an, inklusive des Rückbaus der Automobilindustrie; gute Arbeit für alle statt Prekarisierung vieler; umsichtige politische Gestaltung der Digitalisierung, anstatt dass sie von Konzernen vorangetrieben wird. Ein politisches Bündnis ist notwendig, das nicht wie Merkel und Schäuble auf Spaltung Europas setzt, sondern auf eine politisch und wirtschaftlich attraktive Union.

Nach der Bundestagswahl 2013 bestand rechnerisch eine linke Mehrheit, doch es gab nicht ausreichend Vertrauen zwischen den handelnden Akteuren. Solches Vertrauen bildet sich heraus im respektvollen Streit, in gemeinsamen Erfahrungen, in programmatischen und politischen Umorientierungen, um die Probleme wirklich anzugehen.

Umbau von Wirtschaft und Gesellschaft

Das politische Personal ist wichtig. Es muss aber vor allem über Inhalte gesprochen werden. Und da sind Gemeinsamkeiten bereits vorhanden – oder zumindest denkbar. In der Wirtschafts-und Sozialpolitik war eines der interessantesten Momente im Wahlkampf, dass Martin Schulz in den Umfragen zu Merkel aufschloss, als er die Hartz-Reformen als Fehler der Schröder-SPD kritisierte und das Thema der Gerechtigkeit ins Zentrum stellte. Als er dann inhaltlich nicht konkret wurde, fiel er wieder zurück und fuhr letztlich ein desaströses Ergebnis ein. Doch das Signal bleibt: Die SPD hat nur eine Zukunft, wenn sie mit der Agenda 2010 bricht.

Innenpolitisch könnte eine rot-rot-grüne Regierung gegen die weitere Beschneidung von Bürgerrechten, für den Ausbau öffentlicher Sicherheit und für die Wahrung der Rechte von Geflüchteten und Migranten eintreten. Thema Außenpolitik: Die Linkspartei ist gegen Kampfeinsätze der Bundeswehr und möchte die Nato mittelfristig in ein kooperatives Sicherheitssystem umbauen unter Einbeziehung Russlands. Für Ersteres wäre ein Kompromiss zu finden (auch SPD und Grüne hängen ja nicht unbedingt an den Einsätzen), Letzteres sollte auch im Interesse der anderen Parteien liegen.

Und: Es ist offensichtlich, dass wir sozial-ökologischen Umbau von Wirtschaft und Gesellschaft benötigen – je länger wir warten, desto kostspieliger wird es.

Machen wir uns nichts vor. Gegen Rot-Rot-Grün steht teilweise das Personal der drei Parteien selbst, insbesondere der gut organisierte rechte "Seeheimer Kreis" der SPD. Dagegen stehen der liberale Kretschmann-Flügel der Grünen und die aktuellen Spannungen innerhalb der Linkspartei selbst. Doch Parteien sind ja keine homogenen Gebilde, sondern von Auseinandersetzungen durchzogen, müssen selbst attraktive Projekte entwickeln und Antworten auf gesellschaftliche Herausforderungen formulieren. Sonst zerfallen sie in Lager, blockieren sich und verlieren Wahlen. Vor allem kämpfen mächtige Wirtschaftsinteressen und Medien gegen eine starke Linke mit Regierungsoption an. Umso wichtiger ist, dass es breite gesellschaftliche Bündnisse gibt, die eine solche politische Konstellation ermöglichen und gegen Angriffe absichern. Einfach wird das nicht.

Rot-rot-grünes Projekt

Rot-Rot-Grün in Deutschland stünde hier nicht am Anfang eines Prozesses. Aber es wäre ein machtpolitischer Horizont, der die vertrackte Ideen- und Alternativlosigkeit der Linken überwinden könnte (siehe dazu Hans Rauscher im STANDARD vom 28. 11.). Es könnte ein Modell für Europa mit Ausstrahlung auf andere Länder sein.

Aktuell geht es in Deutschland wohl eher darum, die Bedingungen für ein künftiges gesellschaftliches und dann auch politisches rot-rot-grünes Projekt zu schaffen. Parteipolitische Annäherungen finden derzeit vor allem auf kommunaler und Landesebene statt. Trotz der politischen Rechtsentwicklung gibt es weiterhin eine aktive Zivilgesellschaft in Bereichen wie Integration oder Umweltpolitik. In Deutschland eine progressive Wende einzuleiten ist eine viel umfassendere Aufgabe als eine dreier Parteien – aber diese wären ein wichtiger Bestandteil.

Ein progressives Projekt für die Zeit nach Merkel und ohne Union muss formuliert werden. Ein solches könnte eine gesellschaftliche Aufbruchstimmung erzeugen, die wiederum für eine rot-rot-grüne Option unabdingbar ist. Die Frage, wie Zukunft gestaltet werden soll, würde nicht nur rassistisch von rechts außen beantwortet werden.

Die breite Zustimmung für Jeremy Corbyn in Großbritannien und Bernie Sanders in den USA zeigen, dass die politische Rechtsentwicklung nicht zwangsläufig ist – wenn es denn nur glaubwürdige Alternativen gibt und handelnde Akteure, die sie umzusetzen wollen. (Ulrich Brand, 5.12.2017)