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Eine Bewegung als Button: #MeToo. Trotzdem behalten viele das Erlebte für sich, und haben gute Gründe dafür.

Foto: Reuters/Lucy Nicholson

Die Frauen hinter dem Hashtag #MeToo wurden vergangene Woche vom Magazin "Time" zu den "Personen des Jahres" gekürt. Sie hätten eine der "schnellsten Veränderungen unserer Kultur seit den 1960er-Jahren" herbeigeführt, begründete Chefredakteur Edward Felsenthal die Wahl des Magazins. Die weltweiten Enthüllungen machen das Thema sexuelle Übergriffe und Gewalt seit fast zwei Monaten omnipräsent – sei es in den Medien, in Gesprächen im beruflichen oder privaten Umfeld, mit PartnerInnen, FreundInnen oder in der Familie. Für von Gewalt Betroffene kann das jedoch nicht nur Bestärkung bedeuten, sondern auch zu einer enormen Herausforderung werden. Was bedeutet also für jene Betroffenen die Kampagne #MeToo, die genau das nicht wollen, wofür die Kampagne steht: darüber reden?

TIME

"Dem Thema ist kaum zu entkommen", sagt eine von sexueller Gewalt Betroffene im Gespräch mit dem STANDARD, die anonym bleiben will. Sie erlebt die aktuelle Debatte nicht nur positiv. "Man ist ständig damit konfrontiert, alle reden davon, und du hörst all diese Dinge, die du genau nicht hören willst: Ist es wirklich passiert? War es wirklich so schlimm? Warum hat sie so lange nicht darüber gesprochen? Wenn sie jetzt erst spricht, kann es nur erfunden sein. Sie will dem Mann nur schaden. Männer werden schuldlos an den Pranger gestellt. Nicht alle Männer sind so ..." Die Liste der Unbedachtheiten sei lang, kritisiert sie, und die oft bewusst eingesetzte Täter-Opfer-Umkehr oder Diffamierung der Opfer sehr belastend: "Es ist wie eine Schmutzwelle, die über dich hereinbricht. Und es ist nicht leicht, ihr auszuweichen."

Ambivalente Effekte

Auch wenn die Berichterstattung darüber heute weniger voyeuristisch sei, könne die Dauerberichterstattung Betroffene triggern, "und schon sind die alten Geister wieder da", beschreibt die 45-Jährige mögliche Folgen der zahllosen Meldungen über sexuelle Gewalt, die von trauriger Stimmung bis hin zu Depression, Schlaflosigkeit, Unruhe oder einer tiefen, unbegründeten Traurigkeit reichen. Die Effekte dieser enormen Aufmerksamkeit für #MeToo seien für sie demnach "extrem ambivalent".

Denn andererseits: Das "Time"-Video, in dem die Frauen über die erlebte Gewalt reden, habe auch sie sehr beeindruckt. "Das macht dann wieder Mut, und man will plötzlich auch selber öffentlich darüber reden. Es ist enorm bestärkend, dass hier öffentlich Frauen sprechen, auch unterschiedlichster Herkunft. Es sagt auch‚ wir sind viele", das gleiche einige negativen Folgen der Dauerpräsenz von sexueller Gewalt wieder aus.

Besonders schwer erträglich bleiben für sie aber die Reaktionen im engen Bekanntenkreis. "Dort muss ich oft feststellen, wie stark der Impuls ist zu relativieren. Ich spreche deswegen auch nicht gerne darüber, weil ich es irgendwann satt hatte, die Emotionen der anderen aufzufangen. Wenn ich im Freundeskreis darüber sprach, musste ich mein Gegenüber, egal ob weiblich oder männlich, mitunter darüber hinwegtrösten, was mir passiert ist. Deren Betroffenheit, und dass sie es gar nicht glauben können, macht ein Gespräch darüber ebenfalls schwierig, weil es wieder Rechtfertigung auslöst. Da wäre es oft besser, einfach zuzuhören – ohne Kommentar und Ratschläge. Sonst werden gutgemeinte Hinweise eher Schläge als Rat."

Rücksichtslose Reaktionen

Dass durch die vielen Berichte bestimmte eigene Erfahrungen wieder hochkommen können, kann auch Ursula Kussyk, Leiterin des Vereins Notruf – Beratung für vergewaltigte Frauen und Mädchen, bestätigen. "Aber man darf nicht vergessen, dass das Thema sexuelle Gewalt auch schon vor #MeToo extrem präsent war, etwa wenn man sich das Genre der Kriminalfilme oder -serien ansieht", so Kussyk. Das habe zudem noch den Nachteil, dass in der Form das Thema überhaupt nicht in einen reflektierenden Rahmen eingebettet sei. "Das ist für Betroffene heftig. Jetzt kommen halt auch Berichte von realen Erlebnissen dazu." Weil das Ganze nun auf mehreren Ebenen behandelt werde, sehe sie keinen negativen Effekt für Betroffene.

Trotzdem wollen oder können sich weiterhin viele nicht selbst hinter diese realen Erlebnisse stellen. Zu jenen, die sich nicht andauernd ihrem Umfeld aufs Neue erklären oder sich mit unbedachten und rücksichtslosen Reaktionen beschäftigt wollen, kommen noch jene, die gar nicht die Möglichkeiten sehen zu reden – etwa wenn das Machtgefälle zwischen Belästigter und Belästiger sehr groß ist oder der Beschuldigte in der Öffentlichkeit steht. In dieser Schieflage kann ein Beschuldigter seine Version der Geschichte öffentlich kundtun, während das Opfer von Übergriffen schweigen muss, weil es mit der öffentlichen Rede eine Klage wegen Ehrenbeleidigung, übler Nachrede oder Kreditschädigung zu befürchten hat.

Niemand wird "zwangsgeoutet"

Eine Vertrauensperson für sexuelle Belästigung eines großen Unternehmens, die ebenso anonym bleiben möchte, sieht einen beträchtlichen Unterschied zwischen den zahllosen aktuellen Berichte im Zuge von #MeToo und der gängigen Praxis. Die meisten Betroffenen hätten kein Interesse daran, dass ihre Missbrauchsgeschichte an die Öffentlichkeit gebracht oder im Unternehmen breit diskutiert werde. "Das hätte eine Stigmatisierung der eigenen Person zur Folge, die jungen Menschen mit beruflichen Zielen meist nicht recht ist", so die Vertrauensperson. Negative Aspekte von #MeToo für Betroffene sieht sie keine, schließlich werde durch diese Diskussionen niemand "zwangsgeoutet". Auch an der häufigen Täter-Opfer-Umkehr in der Öffentlichkeit könne sich jetzt womöglich etwas ändern, wenn viel über dieses Thema gesprochen werde. (Beate Hausbichler, 13.12.2017)