Christian Neschwara, "Materialien zur Geschichte der österreichischen Geschichte. 150 Jahre Staatsgrundgesetz über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger". € 44/124 Seiten, Verlag Österreich, Wien 2017

Seit 22. Dezember 1867 in Kraft und immer noch aktuell: der Artikel 17 des Staatsgrundgesetzes, hier verewigt im Stiegenhaus des Neuen Institutsgebäudes der Universität Wien.
Foto: Universität Wien

Wien – Abertausende Studierende und Alumni der Universität Wien kennen den Satz buchstäblich vom Vorbeigehen. Im Stiegenhaus des Neuen Institutsgebäudes in der Universitätsstraße steht da in Großbuchstaben und auf mehreren Metern Länge: Die Wissenschaft und ihre Lehre ist frei. Darunter findet sich noch der Hinweis, woher das Zitat stammt: Es handelt sich um den Artikel 17 des Staatsgrundgesetzes aus dem Jahr 1867.

Auf diesen Artikel 17 wird auch im neuen Regierungsprogramm für die Jahre bis 2022 Bezug genommen: "Im Sinne der Wissenschaftsfreiheit ist der Staat nicht berechtigt, Forschung und Lehre an ideologischen Zielen auszurichten." Der staatliche Einfluss auf Forschung und Lehre sei, so heißt es in der Präambel zu den Vorhaben im Bereich Wissenschaft, "analog zur freien Wirtschaft auf die Gestaltung von Rahmenbedingungen und die Festlegung von Mindestanforderungen zu beschränken".

Teil der "Dezemberverfassung"

Dieses Staatsgrundgesetz über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger wurde als zentraler Bestandteil der sogenannten Dezemberverfassung fast genau vor 150 Jahren am 21. Dezember 1867 von Kaiser Franz Joseph I. sanktioniert und trat tags darauf in Kraft. Bis heute ist es zentraler Bestandteil des österreichischen Verfassungsrechts. Es wird wohl auch an der etwas sperrigen Materie liegen, warum das offizielle Österreich und die Universitäten dem Jubiläum erstaunlich wenig Aufmerksamkeit schenkten.

Immerhin: Am 11. Dezember fand eine Festveranstaltung im Parlament statt, bei der – nach Einleitung der damaligen Neo- und heute Ex-Nationalratspräsidentin Elisabeth Köstinger – der Historiker Gerald Stourzh das Staatsgrundgesetz von 1867 als Garant für Grund- und Menschenrechte in Österreich würdigte. Und an der Uni Wien gab es vergangenen Freitag eine Tagung. Das war es dann aber fast schon mit den Feiern – der österreichische Verfassungspatriotismus scheint nicht allzu stark ausgeprägt.

Konzentration der Historiker auf 2018

Eine ursprünglich geplante Ausstellung im Parlament kam allem Anschein nach nicht zustande, und die Historikerzunft konzentriert sich längst auf 2018, das Jahr der großen österreichischen Jubiläen von 1848 über 1918 und 1938 bis 1968, aus deren Anlass längst schon ein gutes Dutzend neuer Bücher erschienen ist.

Für die Entwicklung der heimischen Universitäten und der Wissenschaft stellt 1867 aber eine positivere, wenn nicht sogar wichtigere Zäsur dar als die vier genannten Umbruchsjahre. "Man darf aber auch nicht übersehen, dass vieles, was mit dem Staatsgrundgesetz 1867 in Kraft trat, bereits von der bürgerlichen Revolution von 1848 gefordert worden war", sagt der Rechtshistoriker Thomas Olechowski (Uni Wien) mit Verweis auf die Märzverfasssung 1849, die 1851 wieder zurückgenommen wurde.

Abschaffung der Zensur

"Ein Teil der neuen Freiheiten war schon in den Jahren vor 1867 praktiziert worden", so Olechowski, der als Beispiel die Abschaffung der Zensur nennt. Mit dem Artikel 13 des Staatsgrundgesetzes, das die Pressefreiheit verfassungsrechtlich garantiert, wurde auch die Zensur abgeschafft. Doch die war im Grunde bereits seit 1862 aufgehoben.

Das Staatsgrundgesetz 1867 und die darauf folgende Ära des Hochliberalismus bis 1879 schlug sich unter anderem auch darin nieder, dass die Evolutionstheorie Darwins nicht nur an den Universitäten, sondern auch in den damals neu aufkommenden österreichischen Massenzeitungen breit rezipiert wurde, wie die Medienwissenschafter Gabriele Melischek und Josef Seethaler von der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW) unlängst gezeigt haben.

Gleichstellung der Konfessionen

An den Universitäten selbst änderte sich durch andere Bestimmungen des Staatsgrundgesetzes womöglich sogar mehr als durch den Artikel 17: Durch die Gleichstellung der Konfessionen bei der Berufswahl wurden Berufungen von Forschern jüdischer Konfession möglich: Zwei der ersten jüdischen Professoren waren der Chemiker Adolf Lieben und der Altphilologe Theodor Gomperz.

Diese gesetzlich sanktionierte Entkonfessionalisierung, die sich positiv auf die wissenschaftliche Entwicklung und insgesamt auf das intellektuelle Leben Wiens um 1900 auswirkte, war der katholischen Kirche naturgemäß gar nicht recht: Papst Pius IX. nannte das Staatsgrundgesetz ein halbes Jahr später eine "lex infanda", ein "abscheuliches Gesetz".

Kein Fortschritt für die Frauen

Bei einer Gleichstellung versagte das Staatsgrundgesetz jedoch: Für Frauen war es insofern wirklich "abscheulich", weil ihnen trotz "Freiheit der Berufswahl" (Artikel 18) das Studium an Hochschulen noch mehrere Jahrzehnte verwehrt blieb, von universitären Karrieren ganz zu schweigen.

Das Staatsgrundgesetz überdauerte zwar 1918, de facto entwickelten sich die Unis in der Zwischenkriegszeit trotz "Wissenschaftsfreiheit" und der damit verbundenen Autonomie in politisch bedenkliche Richtungen, wie der Wissenschaftshistoriker Johannes Feichtinger (ÖAW) sagt: "Linke und Juden wurden häufig nicht mehr zur Habilitation zugelassen, es wurde eine rassistische Studentenordnung erlassen, und kritischen Wissenschaftsfächer wie etwa die Soziologie erhielten keine Lehrstühle."

Ende der "Wissenschaftsfreiheit"

Vollends in Frage gestellt wurde die "Wissenschaftsfreiheit" dann im Austrofaschismus unter anderem durch das Hochschulermächtigungsgesetz: Die katholisch-autoritäre Regierung wollte die Universitäten zu katholischen Erziehungsanstalten umbauen und führte etwa verpflichtende Vorlesungen "zur weltanschaulichen und staatsbürgerlichen Erziehung" und Hochschullager ein. Außerdem konnte das Ministerium von nun an Habilitationswerber ohne Angabe von Gründen ablehnen oder eine Lehrbefugnis aufkündigen – eine Regelung, auf die später auch die Nationalsozialisten zurückgriffen.

Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde der Staatsgrundgesetz reaktiviert und bis heute nur sanft modifiziert. So etwa hat der Gesetzgeber den Artikel 17 über die Freiheit der Wissenschaft 1982 durch Artikel 17a über die Freiheit der Kunst ergänzt. Wichtiger war freilich die Internationalisierung der Grundrechte etwa durch die Europäische Menschenrechtskonvention 1950, so Rechtshistoriker Thomas Olechowski.

Ideologisch umkämpftes Terrain

Warum aber ist das Staatsgrundgesetz nach 150 Jahren immer noch in Kraft und überdauerte sogar den Verfassungskonvent, der vor zehn Jahren scheiterte, einen neuen Grundrechtekatalog zu schaffen? "Ganz einfach", sagt Olechowski: "Die Grundrechte sind jener Teil der Verfassung, der ideologisch besonders stark umkämpft ist. Man denke etwa an das Verhältnis von Kirche und Staat oder an die Frage, wer eine Ehe schließen darf." (Klaus Taschwer, 21.12.2017)