"Ich habe keine Angst, Bücher zu Weihnachten geschenkt zu bekommen, die ich partout nicht lesen will, denn meine Freunde wissen sehr genau, was ich lese. Sie fürchten sich eher, von mir Bücher geschenkt zu bekommen", sagt Julius Deutschbauer, hier zu sehen in seiner Bibliothek der ungelesenen Bücher.

Foto: David Jagerhofer

STANDARD: Sie betreiben sehr verdienstvoll Die Bibliothek der ungelesenen Bücher samt der Veranstaltungsreihe "Lesen und Handarbeiten im Zirkel", wo auch gestrickt werden darf, während gelesen wird. Wie fing alles an?

Deutschbauer: Die Idee kam mir, als ich für Die Presse deren Rubrik "Was lese ich?" füllen sollte. Ich schrieb aber über ein Buch, das ich gar nie gelesen hatte, nämlich über Der Pferdeflüsterer von Robert Schneider ...

STANDARD: Von wem?

Deutschbauer: ... Moment, das Buch hieß Schlafes Bruder, oder? Das hatte ich zweimal geschenkt bekommen, und einmal ging es retour an den Schenker mit den Worten: "Wie kannst du mir so etwas zumuten?" Das war unhöflich. Na gut, auf die Frage "Was lesen Sie?" liefern selbst eloquente Leute bestenfalls eine schlechte Nacherzählung des Inhalts, das war mir zu langweilig. Wenn ich aber jemanden nach dem möglichen Inhalt ungelesener Bücher frage, dann gibt es eine Art Vorerzählung, und die ist spannend.

STANDARD: Die Interviews dauern standardisiert 20 Minuten und beginnen stets mit der Frage "Welches Wetter haben wir heute?". Diese Frage ist wohl abgeleitet von Musils "Der Mann ohne Eigenschaften": "Über dem Atlantik befand sich ein barometrisches Minimum."

Deutschbauer: Ja, aber ein wichtiger Einflüsterer war auch Der Zögling Tjaz von Florjan Lipus. Der geht durchs Dorf und hat keine Beziehung zu den Leuten, wird aber ständig zum Wetter befragt. Er wird dabei zu einem richtigen Wetterexperten, und das wurde auch ich im Zuge meiner Interviews. Die Frage ist: Was erzählt ein Wetterbericht über die Person? Beschreibt man das innere Wetter? Die Kopfgewitter? Ein Künstler sagte einmal: "Im Wirtshaus ist es immer schön." Das ist mein Lieblingswetterbericht, nachdem ich die Mehrzahl meiner Interviews im Wirtshaus führe.

STANDARD: Ist die Mehrheit der Leser dem Sonnenschein zugetan?

Deutschbauer: Im Gegenteil, Leser lieben Regenwetter.

STANDARD: So wie Ihrer Erfahrung nach vier Fünftel der Leute im Liegen lesen?

Deutschbauer: Deswegen gibt es in meiner Bibliothek eine Couch.

STANDARD: Für diese Bibliothek sammeln Sie die Audiodateien der Interviews und kaufen das jeweils ungelesene Buch an.

Deutschbauer: Das ich anschließend mit einem Rotring-Stift 0,25 mm wie ein technischer Zeichner beschrifte und ins Regal stelle.

STANDARD: Nach 700 Interviews: Gibt es eine Rangliste der ungelesenen Bücher?

Deutschbauer: Spitzenreiter ist Der Mann ohne Eigenschaften von Musil, den musste ich inzwischen 22-mal ankaufen. H. C. Artmann zum Beispiel sagte: "Das ist ein Buch für dich und meine Frau, die Rosa, aber bevor ich so etwas lese, lese ich lieber Mickey Maus!" Als er allerdings selbst genannt wurde, und zwar mit seinem Gesamtwerk, war er doch beleidigt, er sagte: "Gibt es irgendjemanden in Österreich, der sich für Literatur interessiert und nichts von mir gelesen hat?" Er hat mir dann aber die angekaufte Gesamtausgabe signiert mit dem schönen Satz: "Alles Ungelesene ist vortrefflich". Nach Musil kommt übrigens die Bibel, dann Ulysses von James Joyce, dann Prousts Auf der Suche nach der verlorenen Zeit, dann Mein Kampf von Hitler und Das Kapital von Marx, ex aequo. Der arme Marx! Bei dem steht übrigens der schöne Satz: "Es gibt Zustände, in denen Weber weben und lesen zugleich." Oder so ähnlich. Das hat er irgendwo in einer Fabrik beobachtet, und das ist erklärtes Ziel unseres Lesezirkels – lesen und handarbeiten zugleich.

STANDARD: Die Interviewten: Sind das für gewöhnlich Vielleser?

Deutschbauer: Nicht unbedingt. Ich habe ja auch oft mit bildenden Künstlern zu tun, und die sind ja nicht unbedingt belesen. Also hoffentlich sage ich jetzt nichts Falsches, aber Maler müssen halt malen und kommen nicht so viel zum Lesen. Na gut, es gibt sicher auch belesene bildende Künstler ...

STANDARD: Wie sieht's bei Ihnen selbst aus mit Lesen?

Deutschbauer: Den Mann ohne Eigenschaften habe ich gründlich gelesen, als Jugendlicher mit 18 Jahren, und es hat mich überraschenderweise reingezogen. Damals war ich noch Discobesucher in Lienz in Osttirol, habe aber selten getanzt, ich war so ein untalentierter junger Mann in der Alpendiele und hatte immer den Mann ohne Eigenschaften unterm Arm, 1980 war das. Es war die erste Ausgabe aus den 1950er-Jahren, ein senfgelber Band in Leinen, den musste ich immer in der Lienzer Stadtbibliothek ausleihen. Alle drei Monate bekam ich einen Brief vom Stadtbibliothekar und musste das Buch für einen Monat zurückgeben und dort ruhen lassen, anschließend konnte ich es wieder ausborgen. Nach drei Jahren habe ich mir mal das Verzeichnis geben lassen, und es war tatsächlich nur ich, der das Buch ausgeliehen hatte. Ungefähr 20-mal.

STANDARD: Und Prousts "Auf der Suche nach der verlorenen Zeit"?

Deutschbauer: Habe ich zu meiner Hochzeit vor 25 Jahren von einem Freund geschenkt bekommen, damals sagte ich: "Wenn ich es fertig gelesen habe, dann lasse ich mich scheiden." Jetzt ist meine Ehe gescheitert, obwohl ich das Buch noch immer nicht zu Ende gelesen habe. Vielleicht ist es aber auch so: Dass die Ehe trotzdem so lange gehalten hat, verdanke ich möglicherweise Marcel Proust.

STANDARD: Ist eine Ehe vorstellbar, in der die Partner höchst unterschiedliche Lesevorlieben haben – Krimis auf der linken Seite des Bettes, Klassik auf der rechten?

Deutschbauer: Also, ich selbst bin kein Krimileser, aber meine Exfrau – oder Nochehefrau -, ich weiß es nicht, die schon. Es ist jedenfalls durchaus angenehm, wenn man einen sehr belesenen Partner hat, das Buchgespräch ist schon etwas sehr Lässiges, da hatte ich Glück mit meiner Frau ...

STANDARD: ... oder Exfrau. Geht's bei solchen Gesprächen auch ein bisschen darum: Wer weiß mehr?

Deutschbauer: Das mache ich natürlich auch ganz gern. Vor allem bei Büchern, die ich nicht gelesen habe, zu denen ich Fremdwissen aufsauge wie bei Filmen, was ich früher heftiger praktizierte. Meine Frau wusste unglaublich viel über Filme, und ich verwendete sehr überzeugend ihr Wissen, ohne selbst eine Ahnung zu haben.

STANDARD: Gibt es Erbauung und Trost in der Literatur?

Deutschbauer: Natürlich. Aber vor allem geht's beim Lesen ums Lernen. Ich bin immer verärgert, wenn ich ein Buch lese und merke, dass ich nichts Neues lerne. Dann lese ich noch ein paar Seiten quer. Manchmal habe ich es aber auch bei der ersten Lektüre nicht geschafft reinzukommen, aber dann greife ich zufällig Jahre später noch mal danach, und es zieht mich plötzlich rein. Ob ich ein Buch lese oder nicht, hat also nicht nur mit dem Buch zu tun, sondern auch mit mir.

STANDARD: Kann man mögliche Sexualpartner mit der eigenen Belesenheit für sich gewinnen?

Deutschbauer: Also während des Sexualaktes zu lesen, das kommt nicht immer gut an!

STANDARD: Aber hin zum Sex: Ist Belesenheit ein möglicher Weg, der einen zum Ziel führen kann?

Deutschbauer: Schon. Deswegen habe ich die Bibliothek aber nicht erfunden, nicht des Aufrisses wegen! Allerdings sind auch für mich Menschen sehr attraktiv, die mit einem Buch in der Hand irgendwo herumsitzen.

STANDARD: Am besten an der französischen Atlantikküste mit einer Zigarette in der Hand?

Deutschbauer: Genau.

STANDARD: Stehen auch ungelesene Ratgeber in Ihrer Bibliothek – "Der perfekte Liebhaber" oder so was?

Deutschbauer: Nein, nichts dergleichen. Aber Urformen der Liebe von Kolig oder gewissermaßen höhergestellte Sexualratgeber wie Batailles Obszönes Werk.

STANDARD: Da haben Sie etwas für sich gelernt?

Deutschbauer: Ja, weniger sexuell, als über mich selbst. Oder Foucaults Sexualität und Wahrheit. Ich war sehr traurig, als er starb, weil er mir noch zwei Bände versprochen hatte. Fünf Bände wollte er schreiben, aber er hat nur drei geliefert, weil seine Krankheit schneller war. Darum bin ich damals sexuell ein wenig stecken geblieben, ich hätte die zwei Bände bitter nötig gehabt!

STANDARD: Versuchen Sie's mit Charlotte Roches "Feuchtgebiete".

Deutschbauer: Das steht auch in meiner Bibliothek. Die Direktorin vom MMK Kärnten hat es nicht gelesen, das Interview mit ihr war dann erstaunlich, nun ja, trocken.

STANDARD: Spielt der Umfang der Bücher eine Rolle bei der Entscheidung, sie nicht zu lesen?

Deutschbauer: Ja, schon, die Spitzenreiter sind alle ziemlich dick. Aber es kommen auch sehr dünne Bücher vor, Stella Rollig etwa nannte Der Hochwald von Stifter.

STANDARD: Wie viele Bücher haben Sie gerade auf dem Nachtkastl?

Deutschbauer: Ich lese schon immer so zehn Bücher parallel.

STANDARD: Gibt es eine schönste Bibliothek?

Deutschbauer: Na schon, Schriftstellerbibliotheken sind oft beeindruckend. Ich war leider nie bei Friederike Mayröcker, aber die Fotos ihres Arbeitszimmers gefallen mir. Und beim Schweizer Schriftsteller Reto Hänny könnte ich ganze Tage verbringen.

STANDARD: Vorstellbar, mal ein ganzes Jahr lang nicht zu lesen?

Deutschbauer: Ist vorstellbar. Aber eher, weil ich immer mehr Lust zum Schreiben habe. Aber eigentlich kann ich es mir doch nicht vorstellen.

STANDARD: Mit einem Buch in der Hand zu sterben ...

Deutschbauer: ... ist vorstellbar und gar nicht unwahrscheinlich. So mit dem Kopf auf das Buch zu kippen, und die letzte Seite, die ich gelesen habe, ist dann Bestandteil des Deutschbauermuseums, das es ganz bestimmt geben wird.

STANDARD: Idealerweise mit welchem Buch in der Hand?

Deutschbauer: Vielleicht mit einem Handke, weil bei dem haben die Bücher so einen altenfreundlichen, großen Zeilendurchschuss, man verliert die Zeile selten, deswegen werden seine Bücher dicker, obwohl die Wortzahl geringer wird. Ich mag bei Handke sehr die Fragesätze, es gibt wenige Autoren, die so genial in Frageform beschreiben können. Die Fragen, die ich bei meinen Interviews stelle, sind ja alle abgezwirnt aus anderer Literatur, ich verwende zum Beispiel Denis Diderots Jaques der Fatalist und sein Herr – die beiden reiten durch Spanien und erzählen von Erlebnissen und Liebesabenteuern, diese Passagen waren perfekt geeignet zum Modifizieren in Hinblick auf meinen Fragekatalog. Dann sind Jonke-Fragen dazugekommen, der auch ein großer Frager war.

STANDARD: Wie viele Bücher verschenken Sie zu Weihnachten?

Deutschbauer: Eines. An meinen Bruder Thaddaeus Ropac.

STANDARD: Wie viele werden Sie selbst geschenkt bekommen?

Deutschbauer: Schon ein paar. Ich habe aber keine Angst davor, Bücher geschenkt zu bekommen, die ich partout nicht lesen will, denn meine Freunde wissen sehr genau, was ich lese. Sie fürchten sich eher, von mir Bücher geschenkt zu bekommen.

STANDARD: Was haben Sie denn da für ein Buch in Ihrer Sakkotasche?

Deutschbauer: Ein Reclam-Heft, Aristophanes' Frauen in der Volksversammlung, puuh! Da geht's nur um Geschlechtsverkehr.

STANDARD: Also lesenswert?

Deutschbauer: Absolut! Es gibt noch ein zweites von ihm, da geht es um Analverkehr, es heißt Das Frauenfest und ist noch heißer als das hier, da ist die Mutzenbacher schwach dagegen! Apropos: Bei unserer nächsten Veranstaltung "Lesen und Handarbeit im Zirkel" nehmen wir uns des schönen Wortes "schier" an. Es geht darum, "schier" in der Literatur zu finden, und ich habe es schon entdeckt. Bei der Mutzenbacherin, die "schier" überrascht war über das mächtige Glied ihres Cousin.

STANDARD: Aber auch ein bisserl begeistert! Ihr Projekt Die Bibliothek der ungelesenen Bücher samt Veranstaltungsreihe läuft also auch nach 20 Jahren auf hohem Niveau, kann man das so sagen?

Deutschbauer: Natürlich. (Interview: Manfred Rebhandl, Album, 23.12.2017)