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Foto: AP / Jens Meyer

Es geschieht in einer Nacht im Juli 2015, als ein lauter Knall Michael Richter aus dem Schlaf reißt. Der Lokalpolitiker steht auf und blickt durch das Fenster auf seinen grünen VW-Golf, über dem eine schwarze Rauchwolke emporsteigt. Später wird klar: Durch eine Sprengstoffexplosion im Inneren des Autos zerbersten die Scheiben, die Karosserie wird zerbeult. Wäre Richter im Auto gesessen, wäre er jetzt vermutlich tot.

Wenige Stunden nach dem Anschlag tauchen Fotos des kaputten Autos auf der Facebook-Seite der Bürgerwehr FTL/360 auf, die nach dem Autokennzeichen Freitals und einer örtlichen Buslinie benannt ist. Es sind dieselben Fotos, die ein Nachbar Richters macht, der später als Zeuge vor Gericht aussagen wird.

Das Auto des Lokalpolitikers Michael Richter nach einem Sprengstoffanschlag: ein Totalschaden.
Foto: Michael Richter

"Jeder, wie er es verdient", kommentiert der Busfahrer Philipp W. darunter. "Im Osten ist es Tradition, da knallt es vor Silvester schon", steht auf dem Profilbild der Seite. Richter vermutet sofort: Der Anschlag kommt aus dem rechten Eck und gilt ihm persönlich. Der 41-Jährige wird zum ersten Opfer der achtköpfigen Gruppe Freital.

Besonders beliebt war Richter in Freital nie. Ursprünglich aus Nordrhein-Westfalen stammend, kam er 2009 in die 40.000-Einwohner-Stadt im Speckgürtel von Dresden. Bis vor wenigen Tagen war der Sozialpädagoge als Stadtrat und örtlicher Fraktionschef der Linkspartei tätig. 2015 kandidierte er zum Oberbürgermeister der Kreisstadt. Im selben Jahr kippte die Stimmung. Um nach dem Sprengstoffanschlag überhaupt noch schlafen zu können, benötigte er Tabletten.

Der Lokalpolitiker Michael Richter (Linkspartei) wurde Opfer eines rechtsextrem motivierten Sprengstoffanschlags. Weil er um sein Leben fürchtete, kehrte er Sachsen den Rücken.
Foto: Vanessa Gaigg

Weil er um sein Leben fürchtete, hat er dieses komplett umgestellt: Es sollte möglichst keine Routine ersichtlich sein. Er stand nie zur selben Zeit auf, auch Feierabend machte er immer unterschiedlich. Wenn er seine Wohnung verlassen musste, fuhr er nur mit dem Auto. Am Wochenende war er nicht in der Stadt. Zweieinhalb Jahre ging das so. Weil er Angst vor neuerlichen Anschlägen hatte, zog er die Reißleine und verließ Freital. Wie konnte es so weit kommen?

"Nein zum Heim"

Als im Frühjahr 2015 Flüchtlinge im ehemaligen Hotel Leonardo in Freital untergebracht werden, wird die Stadt zum Symbol für das rechtsradikale Ostdeutschland. Bewohner gründen eine "Nein zum Heim"-Bewegung, wie es sie auch in vielen anderen ostdeutschen Städten gibt. Man will sich gegen die Unterbringung von Asylwerbern starkmachen. Es folgen wöchentliche Demonstrationen direkt vor dem Hotel Leonardo, die schnell eskalieren. Immer wieder gibt es Ausschreitungen. Das Magazin "Stern" bezeichnet den Ort als "das braunste Tal Deutschlands".

Fortan stehen sich jeden Freitag Rechte und Linke vor dem Leonardo Aug in Aug gegenüber. Doch ein paar Asylgegnern reichen die Kundgebungen bald nicht mehr. Sie beschließen, einige Schritte weiterzugehen. Den Auftakt bildet der Sprengstoffanschlag auf das Auto des Stadtrats Richter, es folgt ein Anschlag auf dessen Parteibüro, auf ein linkes Wohnprojekt in Dresden und auf Wohnungen von im Ort lebenden Flüchtlingen.

Das ehemalige Hotel Leonardo diente kurze Zeit als Flüchtlingsunterkunft. Mittlerweile steht es wieder leer.
Foto: Vanessa Gaigg

Sprengsätze werden an den Fenstern angebracht oder direkt in die Unterkunft geworfen. Die Sprengkraft ist meist so stark, dass das Mauerwerk des Hauses beschädigt wird. Fenstergläser werden aus dem Rahmen gefetzt und fliegen durch die Wohnungen. Beim letzten Anschlag wird nur durch Glück niemand von den handtellergroßen Splittern getötet.

Durch Sprengstoffanschläge verursachte Schäden an ehemaligen Flüchtlingswohnungen sind teilweise noch immer sichtbar.
Foto: Vanessa Gaigg

Die Gruppe trifft sich zumeist bei der örtlichen Aral-Tankstelle, um Absprachen zu treffen. Direkt gegenüber, auf der anderen Straßenseite, ist die Polizeistation. Dennoch: Die Ermittlungen scheinen nicht in die Gänge zu kommen. Monate vergehen, die Intensität der Anschläge steigert sich von Mal zu Mal.

Im November 2015 werden schließlich drei mutmaßliche Mitglieder der Gruppe Freital, darunter die beiden mutmaßlichen Anführer Timo S. und Patrick F. sowie der Busfahrer Philipp W., verhaftet. Zu diesem Zeitpunkt hortet einer der Angeklagten bereits Bauteile zur Herstellung einer Rohrbombe. Die Dresdner Staatsanwaltschaft ermittelt unter anderem hinsichtlich der Herbeiführung einer Sprengstoffexplosion, von einer terroristischen Struktur will man aber nicht sprechen. Die übrigen mutmaßlichen Mittäter bleiben frei. Wieder vergehen Monate.

Die örtliche Aral-Tankstelle diente vermutlich als Treffpunkt der Terrorgruppe. Direkt gegenüber, im grünen Gebäude, ist das Polizeirevier.
Foto: Vanessa Gaigg

Schwere Kaliber

Dann schaltet sich die Bundesanwaltschaft ein und übernimmt die Ermittlungen. Am 19. April 2016 marschiert die Eliteeinheit GSG 9 der deutschen Bundespolizei in die sächsische Kleinstadt ein. Die "Grenzschutzgruppe 9" wurde 1972 nach dem Versagen der Polizei während des Olympia-Attentats in München gegründet. Sie ist als Antiterroreinheit trainiert und auf Schwerstkriminalität spezialisiert. Weitere fünf mutmaßliche Rechtsterroristen werden von Beamten der GSG 9 festgenommen.

Jetzt müssen sich acht Kameraden vor Gericht unter anderem wegen der Bildung einer terroristischen Vereinigung verantworten. Sieben wird auch versuchter Mord zur Last gelegt. Es ist der erste Prozess gegen eine terroristische Vereinigung in der Geschichte Sachsens.

Die Festnahmen setzen einen vorläufigen Schlusspunkt unter eine Bedrohungslage in Freital, aufgrund derer manche Einwohner um ihr Leben fürchteten. Doch die Gruppe hatte, wie Chatprotokolle belegen, nicht nur einen Freitaler NPD-Stadtrat als mutmaßlichen Unterstützer und Ideengeber, sondern auch das gesellschaftliche Klima auf ihrer Seite. Ist es seither sicherer geworden in Freital?

Nachdem Steffi Brachtel auf dem Heimweg aufgelauert und kurze Zeit später ihr Briefkasten in die Luft gesprengt wurde, trifft die 42-Jährige erhöhte Sicherheitsvorkehrungen. Für ihr Engagement für Flüchtlinge wurde ihr eine Auszeichnung für Zivilcourage verliehen.
Foto: Steffi Brachtel

In Sicherheit investieren

"Die Paranoia ist schwächer geworden", sagt Steffi Brachtel, während sie an ihrem Chai Latte nippt. Von Sicherheit will sie nicht sprechen. Die 42-Jährige kellnert in einem Café in der Dresdner Altstadt. Soeben hat sie ihre Schicht beendet. Dort, besonders in der gegenüberliegenden, als alternativ geltenden Neustadt, fühlt sie sich wohler als im 15 Minuten entfernten Freital, wo sie wohnt und aufgewachsen ist.

Als Asylwerber vor zwei Jahren nach Freital kommen, steht sie gemeinsam mit Michael Richter vor dem Exhotel Leonoardo. Online reagiert sie auf fremdenfeindliche Kommentare, postet unter ihrem Klarnamen. Dann werden sie und ihr Sohn zur Zielscheibe: Auf ihrem Heimweg lauert ihr ein Auto auf und blockiert den Gehsteig zu ihrer Wohnungsanlage.

Wenige Tage später explodiert ihr Briefkasten. Als ihr Sohn, ein Teenager, mit seinem Auto am Rande einer rechten Demo in Freital parkt, springt eine Gruppe aus den Büschen und attackiert den Wagen. Er entkommt. Ein Jahr später erhält Brachtel eine Auszeichnung für Zivilcourage. Überreicht wird der Preis vom Förderkreis "Denkmal für die ermordeten Juden Europas" in Berlin. Auch Angela Merkel hält dort eine Rede.

Der Preis gab schon Kraft, meint Brachtel. Auf ihren Alltag hat die Auszeichnung jedoch wenig Einfluss, sagt sie heute: Wenn sie später allein mit der Bahn nach Hause fährt, wird es ungefähr 21 Uhr sein. Sie wird sich am Bahnhof ein Taxi rufen, um zu ihrer Wohnung zu kommen. Diese wird sie gleich nach Betreten hinter sich abschließen. Brachtel wirkt nicht selbstmitleidig, sondern pragmatisch: "Ich gebe Geld für meine Sicherheit aus", sagt sie. "Ich vermeide es, in Freital alleine im Dunkeln unterwegs zu sein."

An der Fassade eines Hauses, auf das ein Anschlag verübt wurde, prangt noch immer der Schriftzug "N.S."
Foto: Vanessa Gaigg

Östliche Traditionen

"Die Gewalt in Sachsen ist auf einem sehr hohen Level", sagt Andrea Hübler vom Verein RAA Sachsen. Im Zuge ihrer Arbeit betreut Hübler Menschen, die Opfer von rechter Gewalt wurden. Vor zwei Jahren sei die Gewalt im ganzen Freistaat explodiert.

Die Opferberatungsstelle versucht, rechte Gewalttaten in Sachsen zu dokumentieren. Zusätzlich werden ungefähr 700 Opfer jährlich beraten. Nach den Verhaftungen sei es im Gebiet Freital zwar ruhiger geworden, sagt Hübler. Es gebe aber nach wie vor Körperverletzungen, Sprühereien und verbale Beschimpfungen.

Das Problem sei auch die Stimmung in der Bevölkerung: "Nach den Verhaftungen gab es viele Solidaritätsbekundungen." Mit den Verhafteten, nicht mit den Opfern. Es gebe ein Narrativ, das von vielen geteilt werde. Es lautet: Hier wird mit Kanonen auf Spatzen geschossen. Das sei ein Problem, auch verursacht durch politische Verantwortungsträger: "Es gibt nach wie vor ein vollkommen unzureichendes Bekenntnis der Stadt Freital, diese Entwicklungen zu verurteilen."

Selbstporträt der Bürgerwehr FTL/360, aus der sich vermutlich die Gruppe Freital rekrutierte.

Der Oberbürgermeister von Freital, Uwe Rumberg (CDU), will sich zum Thema Rechtsextremismus in seiner Stadt nicht äußern. Man bittet um Verständnis, dass man aufgrund der bisherigen Negativschlagzeilen von einem Gespräch Abstand nimmt. Über seinen Pressesprecher lässt er verlauten: "Die Stadt versucht nach Möglichkeiten, ein gedeihliches und friedliches Zusammenleben in der Stadt zu fördern." Und: Die Thematik Rechtsextremismus allein am Beispiel Freital darzustellen sei nicht nachzuvollziehen. Die Mehrzahl der Bürger sei friedliebend und fleißig. Gegenüber dem "Tagesspiel" sagt Rumberg: "Eine Neonaziszene, wie man sie aus den 1990ern kennt, gibt es in Freital nicht."

Es ist die gleiche Strategie, die das Land Sachsen seit Jahrzehnten gegenüber Rechtsextremismus fährt. "Sachsen sind immun gegenüber Rechtsradikalismus", wiederholte der ehemalige Ministerpräsident Kurt Biedenkopf (CDU) erst diesen Oktober sein bekanntes Mantra gegenüber der "Zeit". Bei der Bundestagswahl wurde die Alternative für Deutschland (AfD) zur stärksten Kraft im Bundesland. Im Landkreis Sächsische Schweiz / Osterzgebirge – jenem von Freital – liegt die CDU fast zehn Prozent hinter der AfD. In Freital kommen AfD und NPD gemeinsam auf 36,1 Prozent.

Bloß eine knappe Viertelstunde mit der S-Bahn ist Freital von Dresden entfernt. "Freital-Hainsberg" heißt eine von vier Haltestellen.
Foto: Vanessa Gaigg

Die Politikwissenschafterin Hübler glaubt, dass es Potenzial für einen Nachwuchs der Gruppe Freital gibt. An einem Haus, bei dem ein Sprengstoffattentat gegen Flüchtlingen verübt wurde, prangt noch immer ein Schriftzug: "N.S.". Erst kürzlich ist wieder ein Fenster einer Flüchtlingswohnung eingeschlagen worden. "Für uns wirkt es wie die Ruhe vor dem Sturm", meint die Opferberaterin. "Über der Stadt schwebt ein Damoklesschwert." Es könne jederzeit wieder eskalieren: "Die gewaltvollen Ressentiments müssen nur wieder abgerufen werden."

Die Bürgerinitiative Freital ist Teil der Antiasylszene im Ort.

Bon voyage

"Das Problem ist, dass die Freitaler schweigen", meint Steffi Brachtel. Sie mache zwar nach wie vor den Mund auf, aber ihre Unbeschwertheit sei weg. Wenn sie durch Freital geht, fühlt sie sich, als ob sie von einem Scanner durchleuchtet würde. Freunde, die ihr früher ihre Kinder anvertraut haben, grüßen sie nicht mehr. Menschen wie ihr und Richter werde die Schuld dafür gegeben, dass es in Freital so ausgeartet ist. Es gebe auch nette Leute, die seien aber in der Minderzahl: "Das größte Problem ist, dass niemand mehr einschreitet."

Von der Stadtverwaltung fühlt sie sich im Stich gelassen. "Es braucht ein klares Signal und keine platten Distanzierungen", fordert Brachtel. Sie wünsche sich einen Bürgermeister, der nach Anschlägen wie diesen zu den Opfern geht und sagt: "Mensch, was können wir tun, um euch zu helfen?" Wegziehen sei eine Option. Durchringen konnte sie sich noch nicht.

"Bellende Hunde" waren für Michael Richter diejenigen, die ihn vor dem Sprengstoffanschlag verbal bedrohten. Der finale Entschluss, Sachsen zu verlassen, fiel nach der Einsicht in die Gerichtsakten samt Chatverläufen der Gruppe Freital: Dort habe er gelesen, dass die Terrorgruppe geplant hatte, sein Auto samt ihm in die Luft zu sprengen. Das Gefühl, dass von einem Teil der Freitaler Bevölkerung nach wie vor eine Bedrohung ausgeht, lasse sich nicht abstellen.

Der Politiker sitzt auf einem Drehstuhl vor seinem Computer und klickt sich durch Facebook. Er ruft Seiten auf, bei denen sich Asylgegner aus Freital vernetzen. Immer wieder prangt unter Postings sein Gesicht. "Wir sind heute zusammengekommen, um die Ausreise des Herrn Richter zu feiern", schreibt die Bürgerinitiative Freital. Außerdem: "Hau ab und tschüß!" Es ist bereits durchgesickert, dass der Politiker Freital den Rücken kehrt. Die Bürgerinitiative feiert: "Freital bleibt frei!" (Vanessa Gaigg aus Freital, 6.1.2018)