Immer und überall online sein? Vernetzung beherrscht längst auch das Familienleben.

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Georg Milzner
Wir sind überall, nur nicht bei uns

Leben im Zeitalter des Selbstverlusts
Beltz 2017
265 Seiten, 20,60 Euro

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"Wer möchte, dass Kinder lernen, mit der vernetzen Welt umzugehen, der lebt es am besten vor", sagt Psychologe Georg Milzner.

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STANDARD: In Ihrem neuen Buch "Wir sind überall, nur nicht bei uns" bezeichnen Sie Aufmerksamkeit als den heißesten Stoff unserer Zeit. Wie meinen Sie das?

Milzner: Aufmerksamkeit ist die seelische Währung schlechthin. Ohne Aufmerksamkeit kommt kein Lebewesen in ein glückliches Dasein hinein. Wir wissen, dass Kinder, denen man keine Aufmerksamkeit schenkt, schwere Störungen entwickeln. Es ist auch bekannt, dass Erwachsene, denen Aufmerksamkeit versagt wird, verzweifelt versuchen diese wiederzubekommen. In unserer heutigen vernetzten Kultur wird es immer schwieriger, überhaupt wahrgenommen zu werden. Es ist ein ungeheurer Konkurrenzkampf entbrannt, eine Art darwinistischer Wettstreit darum, wer zählt. Und zählen tut derjenige, dem man Aufmerksamkeit schenkt.

STANDARD: Was passiert, wenn Kindern diese Aufmerksamkeit fehlt, weil Eltern mehr mit den eingehenden Whatsapp-Nachrichten beschäftigt sind als mit ihrem Nachwuchs?

Milzner: Wir haben erste Daten darüber, dass Babys, deren Mütter während des Stillens chatten, unglaublich unruhig werden. Das passiert seltsamerweise aber nicht, wenn die Mutter während des Stillens liest. Es passiert auch nicht, wenn sie auf dem Smartphone liest. Es liegt also nicht am Smartphone an sich, sondern an der Fremd-Kommunikation. Im Kleinkindalter neigen nichtwahrgenommene Kinder zu zweierlei Verhalten: Entweder sie ziehen sich immer mehr zurück oder sie erregen Aufmerksamkeit, indem sie Dinge tun, die stören. Sie werfen was um, zappeln, quengeln. Das sind alles Versuche, um wieder wahrgenommen zu werden.

STANDARD: Und wie reagieren Jugendliche?

Milzner: Jugendliche verlagern diese Versuche oft auf das Internet. Das Fatale daran: Diejenigen, die in der analogen Welt viel Aufmerksamkeit erhalten, kriegen diese auch im Internet. Diejenigen, die in ihrem sozialen Leben vereinsamen und sich Aufmerksamkeit in den sozialen Medien erhoffen, erleben im Internet dann noch einmal dieselbe Einsamkeit. Daraus erklärt sich auch die erhöhte Zahl an depressiven Verstimmungen nach Facebook-Aufenthalten.

STANDARD: Immer mehr Menschen halten es schwer aus, wenn sie eine halbe Stunde ohne Internetanschluss verbringen müssen. Wie viel hat diese Unruhe mit dem von Ihnen diagnostizierten Selbstverlust in unserer Gesellschaft zu tun?

Milzner: Der zeitgenössische Mensch definiert sich in einem ungewöhnlich hohen Ausmaß über seine Vernetztheit. Wenn Sie ihm die Vernetztheit nehmen, dann bleibt eine merkwürdige Wahrnehmung von Leere zurück. Wenn wir unsere gesamte Aufmerksamkeit in das äußere Netz legen, dann geht die Wahrnehmung nach innen Stück für Stück verloren. Wenn einem dann plötzlich die äußere Vernetzung fehlt, ist es schwierig, etwas nach innen zu spüren – außer steigende Unruhe.

STANDARD: Sie schreiben, dass viele Menschen nicht mehr wüssten, was sie mit ihrem Leben anfangen sollten. Warum?

Milzner: Ein Mensch der nicht gelernt hat, wie man in sich hineinschaut, wie man sich selbst ergründet und kennenlernt, der bekommt keinen Zugang zu seinem eigentlichen Wollen. Demjenigen fällt auch das Entscheiden immer schwerer. Er wird zwischen den äußeren Reizen hin und her getrieben. Die wirklich guten Entscheidungen werden aber durch Zeit, Aufmerksamkeit und Selbstzuwendung getroffen.

STANDARD: Was sind die Folgen eines dauerhaften Mangels an Selbstaufmerksamkeit?

Milzner: Um eine gereifte Persönlichkeit zu entwickeln, die innere Widersprüche und Vielfalt aushält, braucht man Selbstaufmerksamkeit. Wenn das immer weniger möglich ist, dann kommt es zu immer weniger reifen Persönlichkeitsentwicklungen. Dieser Verlust eines reifen Selbst ist spürbar. Stattdessen baut man sich ein "falsches Selbst" oder ein "künstliches Selbst" auf. Gegenwärtig sehe ich vier Formen eines künstlichen Selbst, nämlich Narzissmus, Fundamentalismus, Schwarmorientierung und Funktionalismus.

STANDARD: Was meinen Sie damit?

Milzner: Es sind Versuche, den Selbstverlust zu kompensieren. Hinter Narzissmus steckt vor allem der Wunsch, geschätzt und begehrt zu werden. Im Fundamentalismus geht es um die Justierung dessen, was gelten soll – also etwas, das man eigentlich tiefer mit sich selbst ausmacht. Beim Schwarmverhalten dreht sich alles um das Dazugehören und die Abwehr von Vereinsamung. Und auf der Ebene des Funktionalismus konkurrieren wir mit einer Maschine und definieren uns darüber, was wir können. Doch das reine Können im Maschinensinn macht Menschen leicht korrumpierbar. Für Geld oder für Anerkennung macht der Mensch dann Dinge, die ihm nicht guttun und ihn seelisch veröden lassen. Irgendwann spürt er, dass der Aufwand, funktional zu sein, in keinem Verhältnis mehr zum Ertrag steht. Dieser Funktionalismus mündet zielsicher im Burnout.

STANDARD: Der Druck, in der digitalisierten Welt zu bestehen, wird nicht weniger. Wie können wir uns vor dem Selbstverlust bewahren?

Milzner: Ich glaube, wir brauchen vor allem drei Dinge: Das eine ist ein Bewusstsein darüber, dass Aufmerksamkeit keine unendliche Ressource ist. Es ist womöglich die am meisten begrenzte Ressource des Menschen. Man kann nicht permanent zwei oder drei Dinge gleichzeitig tun. Aufmerksamkeit sollte nur der oder das bekommen, was uns wertvoll erscheint. Zweitens ist es notwendig, auf breiter Ebene Bewusstseinstechnologien zu erlernen, die die Aufmerksamkeit steuern. Achtsamkeitsübungen sind dabei eine von vielen Möglichkeiten, um unsere Aufmerksamkeit zu lenken. Und drittens bräuchte es dringend eine kulturelle Debatte darüber, wo wir als digitalisierte Gesellschaft hinwollen. Im Moment nehmen wir den digitalen Kapitalismus als Selbstverständlichkeit hin.

STANDARD: Was können Eltern machen, um ihre Kinder zu stärken?

Milzner: Wer möchte, dass Kinder lernen, mit der vernetzen Welt umzugehen, der lebt es am besten vor. Doch die Aufmerksamkeitsverteilung gelingt inzwischen den Großen genauso wenig wie den Kleinen. Die allersicherste Methode, einem Kind zu vermitteln, dass es interessant ist, ist sich mit dem Kind zu beschäftigen. Ich sehe das in meiner Praxis immer wieder: Diejenigen, die als Kind erleben, dass sie wenig wahrgenommen werden, bekommen auf subtile Weise vermittelt, dass sie weniger interessant sind. Und in der Folge finden sich diese Menschen dann auch selbst weniger interessant.

STANDARD: Sie plädieren für eine neue Idee von Aufmerksamkeitsökonomie. Wie sieht die aus?

Milzner: Durch das extrem hohe Maß an Reizen ist es nicht mehr selbstverständlich, dass man sich einer Sache hingibt, wenn man sie faszinierend findet. Wenn unser Handy pfeift, schauen wir hin. Das ist ein Rest der evolutionär notwendigen Muster: Wenn vorne im Busch etwas raschelt, muss ich herausfinden, ob da Beute ist oder ob ich bald Beute sein werde. Ein Teil unserer gegenwärtigen Unruhe ist darin begründet, dass diese evolutionären Muster eben wirken. Dazu kommt, dass es schwer gelingt zu filtern, was wichtig ist oder was nicht. Für eine neue Ökonomie der Aufmerksamkeit müssen wir lernen zu filtern, was relevant ist. Wer den evolutionären Mustern auf dem Spielplatz nicht erliegen will, braucht Regeln. Denn wenn in dem Moment, in dem das Kind eine Sicherheitsstellung brauchen würde, Vater oder Mutter dummerweise gerade nach unten schauen, weil eine Message eingeht, wird das Kind abstürzen. Es braucht ein Bewusstsein darüber, dass wir die Kanäle nicht unter Kontrolle haben. Eine neue Aufmerksamkeitsökonomie könnte hier so aussehen, dass ich das Handy ausschalte, wenn ich auf dem Spielplatz bin. Es ist wichtig, bewusst zu planen, wann und wo man vernetzt sein will und wann und wo man alle Kanäle abschaltet. In manchen Familien gilt die Regel, alle Bildschirme ab 21 Uhr auszumachen. In einer Familie lohnt es sich, das auszuhandeln. Und: Kinder honorieren es sehr, wenn klar ist, dass die Regeln auch von Erwachsenen eingehalten werden. (Christine Tragler, 10.1.2018)