Wien – Es war der bisher größte Protest gegen die türkis-blaue Regierung: Laut ersten Schätzungen der Polizei am Samstag nahmen 20.000 Personen an der Antiregierungsdemonstration teil, am Sonntag sprach Polizeisprecher Alexander Marakovits auf STANDARD-Anfrage nach einer "finalen Schätzung" von 30.000 Teilnehmern. Veranstalter nannten die Zahl 70.000.

Die Polizei schätzt die Anzahl der Teilnehmer auf 20.000. Veranstalter sprechen von mehr als drei Mal so viel Demonstranten.

Unter dem Motto "Neujahrsempfang" luden die "Plattform für menschliche Asylpolitik", die "Offensive gegen Rechts" und die "Plattform Radikale Linke" am Samstagnachmittag zur "Großdemonstration". "FPÖ und ÖVP planen massive Einschnitte im Pensions-, Gesundheits- und Sozialsystem sowie Angriffe auf die Gewerkschaften und die Schwächung der Arbeiterkammer" hieß es im Aufruftext der Veranstalter.

Video: Ein Großteil der Demonstranten fürchtet sich vor dem Wiedererstarken des Rechtsextremismus.
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Der Demonstrationszug setzte sich um kurz nach 15 Uhr in Bewegung. Als die Spitze der Demonstration beim Ring ankam, konnte erst der letzte Block beim Christian-Broda-Platz gegenüber vom Wiener Westbahnhof losmarschieren. Somit war die gesamte Innere Mariahilferstraße von Demonstranten gefüllt.

"Ich sag‘ Kickl – ihr sagt Rücktritt"

Ein großer Teil der Wut richtete sich gegen die Regierungsbeteiligung der FPÖ und insbesondere gegen Innenminister Herbert Kickl, der in den letzten Tagen mit seinem Ausspruch, Asylwerber "an einem Ort konzentrieren" zu wollen, für Aufsehen sorgte. "Ich sag‘ Kickl – ihr sagt Rücktritt", wurde immer wieder skandiert.

Die Demonstration stand unter dem Motto: "Nein zu Schwarz-Blau! Gegen Rassismus, Sozialabbau und Rechtsextremismus"
Foto: Christian Fischer

"Eine Partei hat die Verpflichtung, Minister zu nominieren, die sich dafür eignen und nicht jene aus dem rechtesten Eck", sagt die Demonstrationsteilnehmerin Svanlind Keller. "Die neue Regierung schlägt Töne an, die mich daran erinnern, dass vor 80 Jahren 1938 war. Davor graust mir und ich habe Angst", sagt die 74-Jährige. "Was sie mit den Ausländern vorhaben ist furchtbar."

An dem Demo-Zug nahmen viele Organisationen teil, die vor einer Wiederholung der Geschichte warnen, wie der KZ-Verband oder die Jüdische Hochschülerschaft (JÖH). Die FPÖ versuche sich als Freund der Juden sowie Israels aufzuspielen, meint etwa der Co-Präsident der JÖH. "Dabei kommt ein großer Teil des Personals der FPÖ aus tief antisemitischen Kreisen mit Kontakten ins Neonazi-Milieu."

Die Bundesregierung wurde heftig kritisiert.
Foto: Christian Fischer

Viele Parolen und Schilder verrieten die Sorge der Teilnehmer vor einem Sozialabbau und waren oft direkt an Bundeskanzler Sebastian Kurz adressiert: "Alle Menschen sind gleich, nur Reiche sind gleicher" oder "Damit der Sozialstaat nicht zu kurz kommt" war zu lesen. Zwischen zwei Karton-Segelohren war der berühmte, Marie-Antoinette zugeschriebene, Satz zu lesen: "Wenn sie kein Brot haben, sollen sie doch Kuchen essen."

Video: Zur am häufigsten genannten Sorge zählte die vor dem Sozialabbau.
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SPÖ und Grüne riefen zu Demonstration auf

Sowohl die Grünen Wien als auch die SPÖ Wien hatten am Vortag von offizieller Seite in sozialen Netzwerken zur Demonstration aufgerufen. "Ich bin hier, weil ich die Demokratie und Menschenrechte verteidigen möchte", sagt die ehemalige Nationalratsabgeordnete und Menschenrechtssprecherin der Grünen, Alev Korun, dem STANDARD. Die Grünen werden in den nächsten Jahren Widerstand gegen den drohenden Sozialabbau und rassistische Asylpolitik leisten, kündigt Korun an. Man werde in den Landesregierungen mit grüner Beteiligung die Stimme für die Menschenwürde und den Rechtsstaat erheben.

Die "Offensive gegen Rechts" verspricht, auch künftig politisch aktiv zu bleiben.

Beim Protest gegen Sozialabbau will sich auch die SPÖ anschließen: "Unser Kampf muss der Armut und nicht den Armen gelten", sagt der geschäftsführende Klubobmann der SPÖ, Andreas Schieder, der ebenfalls an der Demonstration teilnahm. Die SPÖ werde eine starke Opposition sein und aufzeigen, dass es eine Alternative gibt, sagt Schieder.

Auch die Wiener Finanzstadträtin und SPÖ-Wien-Frauenvorsitzende Renate Brauner mischte sich in den Demonstrationszug. "Ich möchte meiner persönlichen Empörung Ausdruck verleihen gegenüber dem, was die schwarz-blaue Regierung gegen uns Frauen vorhat", sagt Brauner. Aus frauenpolitischer Sicht gelte es in den kommenden Jahren gegen den 12-Stunden-Tag und alldem, was die Umverteilung von oben nach unten verhindere, aufzutreten: "Das geht immer zu Lasten der Frauen."

Die Abschlusskundgebung fand am Heldenplatz statt.
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Die Abschlusskundgebung fand am Heldenplatz statt. Dort hielten unter anderem Susanne Scholl von "Omas gegen Rechts" und Lisa Mittendrein von Attac Österreich Reden, außerdem wurden Grußbotschaften von Daniela Kickl, der Cousine von Innenminister Kickl, sowie von Autor Hans Henning Scharsach verlesen. Zu gewalttätigen Zwischenfällen kam es nicht. Aus polizeilicher Sicht sei die heutige Versammlung "ruhig und ohne nennenswerte Vorfälle verlaufen", teilte die Landespolizeidirektion Wien mit. (Vanessa Gaigg, Maria von Usslar, 13.1.2017)