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Man schrieb das Jahr 1974, als Martin Maier im "Kurier" seine Kolumne titelte: "Nun soll endlich Gras über Zakopane wachsen." Von einer "saudummen Männerg'schicht" mit einem "unguten professionellen Weibsstück und einem Niagarafall von Alkohol" schrieb er und schloss: "Der Toni hat in Zakopane eben danebengehauen."

"Der Toni hat in Zakopane eben danebengehauen."

44 Jahre später stimmt die "Kronen Zeitung" zu. "Wir erinnern uns lieber an seine legendären Fahrten."

Martin Maier 1974 in seiner "Kurier"-Kolumne: "Der Toni hat in Zakopane eben danebengehauen." Es sei eine "saudumme Männerg'schicht" gewesen.
Quelle: Kurier

Das Beispiel Toni Sailer (1935–2009) zeigt, wie sich ein Idol kritischer Berichterstattung entzieht. Dank der Intervention Mächtiger und dank des Schweigekartells, das Journalisten mit ihnen sympathischen Sportlern und Funktionären bilden.

Die Berichterstattung begann am 5. März 1974, dem Tag des Vorfalls, mit einer Kurzmeldung der APA, der österreichischen Presseagentur. Sailer sei in Zakopane wegen "Gewalttätigkeit" in Probleme geraten.

Ihm und zwei weiteren Beschuldigten seien wegen eines Zwischenfalls "mit einer jungen Frau" die Reisepässe vorläufig abgenommen worden. "Sailer wies die Beschuldigungen energisch zurück", hieß es.

Am 8. März erschien eine Kolumne des "AZ"-Redakteurs Alfred Nimmerrichter mit dem Titel "Das Schweigen": "Offenbar ist niemand bereit, einmal klar zu sagen, was in dem polnischen Wintersportort tatsächlich geschehen ist. Auch Sailer selbst sagt nichts." Zwei Tage vorher hatte Sailer die österreichische Botschaft in Warschau um Hilfe gebeten.

In der Folge kamen kleine Berichte über den Fall. "Krone"-Reporter Heinz Prüller setzt die Tonalität. "Opfer einer Erpressung?" Die Vorwürfe gegen Sailer stammten von einer "übel beleumundeten Frau".

Solidaritätsbekundungen

"Von Vergewaltigung keine Rede (das bestätigt der Gerichtsmediziner)." Prüller war nicht in Zakopane. Prüllers Artikel kam aus dem Hotel Sasanka irgendwo in der Hohen Tatra. "Toni Sailer kippt einen Wodka, einen polnischen", schrieb Prüller über den nach seiner Ausreise "erschöpften", aber jedenfalls "glücklichen" Sailer.

Alfred Nimmerrichter, Bruder des "Krone"-Staberl, schreibt am 8. März 1974 in der "AZ", niemand wolle sagen, "was tatsächlich geschehen ist".
Quelle: AZ

In den Tagen darauf melden auch deutsche Zeitungen den Vorfall, kurz und alles andere als fehlerfrei. Die "Frankfurter Allgemeine Zeitung" am 8. März: "15.000 Dollar Kaution für Sailer". Am selben Tag im "Hamburger Abendblatt" ein Einspalter: "Toni Sailer in Polen angeklagt". Am 9. März in der "Bild": "Eine junge Polin behauptet: Toni Sailer hat mich vergewaltigt."

Die Artikel in den österreichischen Zeitungen waren selbstgewählte Ohnmachtserklärungen und Solidaritätsbekundungen der Journalisten. Keiner machte sich auf den Weg, die Vorwürfe auf ihren Wahrheitsgehalt zu prüfen. Wenn man schon von Sailers Unschuld überzeugt war, warum half man ihm nicht, indem man seinen Job erledigte?

"Damals hat man nicht so recherchiert wie heute", sagt der ehemalige Skireporter der "Krone", Karl Pointner. Wolfgang Winheim, der jahrzehntelang für den "Kurier" mit dem Skizirkus reiste, sagt: "Es war unmöglich, im Ostblock zu recherchieren. Die Sportler und Funktionäre von dort waren politisch unglaublich geschult."

Und er erzählt, wie der Skihersteller Franz Kneissl, Kommanditist beim "Kurier", sich beschwerte, weil Winheim eine Geschichte über die bevorstehende Schließung des Kneissl-Damenskiteams zu schreiben gewagt hatte. Winheim: "Die Tiroler Patriarchen waren erdrückend mächtig." Ein halbes Jahr später warf Kneissl die Skifahrerinnen hinaus.

Andere Reporter von damals wollen zu Sailers Affäre nicht Stellung nehmen. Motto: "Sailer war ein Nationalheld, und so einen patzt man nicht an." Dazu noch einmal ein aktueller Titel von krone.at: "Toni Sailer anzupatzen, ist eine riesige Sauerei." Als wäre es darum gegangen, als würde es darum gehen.

Die zugeschriebene Rolle

Sailer ist seit dem dreifachen Olympiasieg von Cortina d'Ampezzo (1956) der größte Sportstar der Zweiten Republik. Das hängt, wie der Sporthistoriker Rudolf Müllner erklärte, auch mit der ihm zugeschriebenen und von ihm dankbar angenommenen Rolle im Wiederaufbau nach dem Zweiten Weltkrieg zusammen.

Ab dem Zeitpunkt, als der damals 20-jährige Olympiasieger von Bundespräsident Theodor Körner das Große Ehrenzeichen für Verdienste um die Republik Österreich erhielt, gehörte er zum Inventarium der Heimat.

"Da war so ein Irrer, der war schon radikal."

Zum Hahnenkammrennen in Kitzbühel wird das Andenken an den größten Sohn des Ortes zelebriert. Sailers Verehrung passt in das ahistorische Selbstbild des Skiverbands ÖSV, der sich kaum kritisch mit seiner Historie auseinandergesetzt und den notwendigen Zutritt in seine Archive nicht gestattet hat.

Heinz Prüller recherchierte für die Krone: "Opfer einer Erpressung?"
Quelle: Krone

Sailers mediokre Arbeit als ÖSV-Direktor und Cheftrainer und sein Kampf mit dem Alkoholismus wurden und werden ausgeblendet. Wie Kitzbühels Beitrag zur Ausbildung der Gebirgsjäger im Dritten Reich.

Kurze Zeit nach dem Vorfall im März 1974 war mediale Ruhe eingekehrt. Am 28. April 1975 berichtete die APA von der Degradierung des ehemaligen ÖSV-Direktors zum Trainer des Slalom- und Riesenslalomteams.

Ein österreichischer Journalist rettete die Ehre des Berufsstandes und wurde dafür nicht gerade mit öffentlicher Anerkennung überschüttet. Im Gegenteil, namhafte Berufskollegen maßregelten ihn dafür, ein Jahr danach, also im März 1975, im "Stern" den Fall Sailers in Zakopane ausführlich dargestellt zu haben. "Da war so ein Irrer", sagt ein ehemaliger Sportjournalist am Telefon, "der war schon radikal."

Bernd Dörler ging den Gerüchten nach, die in der Saison 1974/75 noch immer im Skizirkus herumliefen. Er recherchierte in Zakopane und konnte in Warschau den Akt des polnischen Staatsanwalts einsehen.

Im März 1975 rollte das Magazin "Stern" auf. Autor Bernd Dörler, der in die polnischen Akten Einsicht genommen hatte, wurde von Kollegen angefeindet. Der ganze Artikel als .pdf.
Quelle: Stern

Als "Dossier", STANDARD und Ö1 Ende 2017 mit den Recherchen zum Justizakt begannen, stellten sie fest, dass die betreffende Ausgabe des "Stern" nicht in der Österreichischen Nationalbibliothek aufzufinden war. Haben die Interventionen zugunsten von Sailer gar in das kollektive Erinnerungsreservoir eingegriffen?

"Völkerrechtlich unmöglich"

Am 9. März 1976 berichtet der "Kurier" von einem Gerichtsverfahren, das Sailer gegen den Stern wegen "falscher Berichterstattung" angestrengt hatte. Zwei Monate später schreibt die "AZ", der "Stern" habe einen Prozess "wegen übler Nachrede" in erster Instanz verloren.

Die vom "Stern" als Wahrheitsbeweis angebotenen Schriftstücke durften nicht vorgelegt werden. Denn ein österreichisches Gericht könne die Entscheidung eines "ausländischen" nicht anzweifeln, das sei "eine völkerrechtliche Unmöglichkeit". Dörler musste laut "AZ" 6.000 Schilling Strafe und weitere 5.000 Schilling an den "in seiner Ehre gekränkten Nationalhelden" zahlen.

Tauchten Zweifel an Sailers Qualifikation als Trainer oder Disziplin auf, wie in einem "Profil"-Artikel im Februar 1976, so hinterließen sie bloß seichte Spuren, die bald verweht waren. Nicht einmal die Geschichten über viele gemeinsam mit dem Abfahrtstrainer Charly Kahr durchzechte Nächte konnten Sailer etwas anhaben.

Selbst das von Klammers Abfahrtssieg überdeckte Debakel des ÖSV bei den Winterspielen 1976 konnte sein Ansehen nicht nachhaltig beschädigen. Bernd Dörler hatte das Desaster vorhergesagt. Nach den Winterspielen trennte sich der ÖSV von Sailer.

"Beschämend, einen Toten so anzuschwärzen."

Es wurde ruhig um ihn, sein Image fand einen Platz im nationalen Legendenbuch. 1999 wurde er von den Sportjournalisten, angeführt vom Sportchef des ÖSV-Partnerblatts "Kronen Zeitung", Michael Kuhn, zum Jahrhundertsportler Österreichs gewählt.

Der Status der nationalen Unersetzlichkeit erklärt die Interventionen von 1974 und das Schweigen der Blätter. Erst nach den Berichten über den Akt des Justizministeriums über die Hilfe von Bruno Kreiskys Regierung für einen der Vergewaltigung Verdächtigen heulten die Wächter der gesunden Volkserinnerung wieder auf.

"Profil": "Für Sailers skiferne Unterhaltung blechte der Österreichische Skiverband weiter."
Quelle: Profil

"Beschämend, einen Toten so anzuschwärzen", titelte kürzlich die "Krone". Stars wie Annemarie Moser-Pröll, Franz Klammer und Karl Schranz geben Zeugen der Gegenaufklärung. Sportminister Heinz-Christian Strache spricht von einer "miesen Kampagne".

Andere Stimmen wie jene von Wido Sieberer, des Leiters des Stadtarchivs Kitzbühel, der laut ORF Tirol die Notwendigkeit der Aufarbeitung ansprach, wenngleich das vor allem für die Kitzbüheler besonders schmerzlich sei, werden fast nicht gehört.

Als sei die Zeit stehengeblieben, wird das Vaterland gegen die Anmaßung verteidigt, einen ungeklärten Vorfall mithilfe neu aufgetauchter Dokumente verständlicher zu machen. Die mm-Kolumne von 1975 könnte da und dort noch heute erscheinen.

In Sailer, heißt es da, sei damals die "Bestie Weltcup" gefahren. Doch nun ist "der Krieg aus, Kameraden, zu Muttern geht's! Und da umarmen sie einander, und dann reißen sie Bäume aus und schlagen der Welt ein riesengroßes Loch."

Zurück zu 1956

Unwidersprochen hat zu gelten, womit 1956 die Verleihung des Großen Ehrenzeichens um Verdienste für die Republik an Sailer begründet wurde. "Die Persönlichkeit des Weltmeisters wird durch das charakterliche Gesamtbild in einer geradezu seltenen Art abgerundet."

Und: "Seine moralische Sauberkeit, Enthaltsamkeit von allen zeitbedingten Erscheinungen in einem internationalen Fremdenverkehrsort, wie Kitzbühel, seine von gesundem Ehrgeiz durchdrungene Willenskraft und Begeisterung zum Skisport und seine nie überhebliche Umgangsform ... zeichnen den populären Olympiasieger und Weltmeister als Vorbild für die ganze Sportjugend besonders aus." (19.1.2018)