Womit der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan seit über einem halben Jahr gedroht hatte, wird seit Sonntagfrüh umgesetzt: Die türkische Armee und ihre syrischen Verbündeten haben die kurdische Region Afrin (kurdisch Efrîn) im Nordwesten Syriens angegriffen und versuchen diese nun mittels Bodentruppen und Panzern zu erobern. Unter den türkischen Verbündeten befinden sich auch jihadistische Gruppen, was insbesondere bei den Angehörigen der religiösen Minderheit der Jesiden Angst vor einer Wiederholung jener Gräueltaten aufkommen lässt, die ihre Glaubensbrüder im Irak 2014 durch den IS erleiden mussten. 

Die türkische Armee, kurz vor ihrem Einmarsch in Syrien, in der Nähe der Stadt Hassa.
Foto: APA/AFP/BULENT KILIC
2012 wurden die Bilder des syrischen Präsidenten am Eingang der Stadt Afrin beseitigt.
Foto: Thomas Schmidinger

Hochburg der PKK

Im Sommer 2012 hatten kurdische Einheiten auch hier, im Westen des kurdischen Siedlungsgebietes Syriens, die Region kampflos von der syrischen Armee übernommen. Im Hügelland des Kurd Dagh, des "Kurdenberges", wurde seither eine autonome Verwaltung aufgebaut, die seit 2016 Teil der Demokratischen Föderation Nordsyriens ist. Im Gegensatz zum Osten des kurdischen Siedlungsraums in Syrien, galt Afrin schon seit den 1980er-Jahren als Hochburg der in der Türkei gegründeten Arbeiterpartei Kurdistans PKK. Traditionell hatten die Parteien, die sich eher an Irakisch-Kurdistan orientierten, ihre Hochburgen in der östlichen Region Jazira (Cizîrê), während die PKK – und ab 2003 ihre syrische Tochterpartei, die Demokratische Unionspartei PYD – ihre Hochburgen stärker in Kobanê und in Afrin hatten. Schon in den 1990er-Jahren gelang es der PKK in einem Klima der politischen Liberalisierung in Afrin sogar sechs "Unabhängige" ins syrische Parlament zu bringen.

Die stark landwirtschaftlich geprägte Region, in der Millionen von Olivenbäumen den Bauern ihre Existenzgrundlage sichern, ist allerdings auch von religiöser Diversität geprägt. In der Region gibt es viele frühchristliche Spuren. Eine Familie der heute fast völlig abgewanderten armenische Gemeinde brannte hier bis zu Beginn des Bürgerkrieges den berühmtesten Anisschnaps Syriens, den "Batta Arak". In Afrin gibt es allerdings auch die einzige Stadt mit einer alevitischen – nicht alawitischen – Minderheit Syriens und das größte Siedlungsgebiet der Jesiden in Syrien. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts gehörte noch eine Mehrheit der kurdischen Bewohner dieser eigenständigen Religionsgemeinschaft an, die immer wieder Opfer von Verleumdungen und Verfolgungen waren.

Die Friedhöfe der Jesiden in den Dörfern der Region sind von charakteristischen Symbolen geprägt.
Foto: Thomas Schmidinger

Zufluchtsort der Jesiden

Der berühmte französische Orientalist und Kurdologe Roger Lescot, Begründer des Lehrstuhls für Kurdisch an der École Nationale des Langues orientales in Paris und Entwickler der Grammatik Kurmancî –  gemeinsam mit Celadet Alî Bedirxan –, kam in seiner in den 1930er-Jahren durchgeführten Untersuchung bei den Jesiden in Syrien und im Irak zu dem Schluss, dass die Jesiden seit dem 13. Jahrhundert in die Region kamen und sich um Afrin niederließen. Die meisten jesidischen Dörfer liegen genau zwischen der Stadt Afrin und der am 18. September 2013 vom "Islamischen Staat im Irak und Sham" von anderen Oppositionsgruppen eroberten Stadt Azaz, sowie von dort nach Süden über den westlich vom eigentlichen Kurd Dagh gelegenen Gebirgsmassiv des Jebel Siman (Simonsberg).

Dieses nach Symeon Stylites der Ältere benannte Gebirgsmassiv mit seinen Dörfern Beradê, Bircê Hêdrê, Basûfanê und Kîmarê, das auf Kurdisch als Çiyayê Lêlûn bezeichnet wird und durch das Afrin-Tal vom eigentlichen Kurd Dagh getrennt ist, bildet das Kerngebiet der Jesiden in der Region Afrin und zugleich das größte geschlossene Siedlungsgebiet der Jesiden in Syrien. Die insgesamt 26 jesidischen Dörfer der Region liegen seit den Jahren 2012 und 2013 direkt an der Frontlinie mit rivalisierenden arabischen und jihadistischen Oppositionsgruppen, von denen einige nun einen Teil der Bodentruppen der türkischen Invasion bilden. 

Protürkische Milizen patroullieren in den Straßen vor Azaz.
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Zentrum der jesidischen Vereinigung in der Stadt Afrin mit einer Statue von Zarathustra.
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Die seit 2012 von der Demokratischen Unionspartei PYD eingeführte Selbstverwaltung schützte auch die Jesiden vor jihadistischen Angriffen und integrierte sie in das politische System der Region. Zwar führte die Interpretation des Jesidentums als Variante des Zoroastrismus, der von Zarathustra gegründeten vorislamischen Religion des Iran, wie sie von der PYD und PKK betrieben wird, immer wieder zu Auseinandersetzungen mit Jesiden, die sich dieser Neuinterpretation ihrer Religion widersetzten. Allerdings erkannten auch PYD-kritische Jesiden die Bedeutung, die die kurdischen Volksverteidigungseinheiten YPG und Frauenverteidigungseinheiten YPJ für die Verteidigung der Region gegen jihadistische Gruppen hatten und haben an. Diese von der PYD gegründeten Einheiten hatten 2014 auch für die irakischen Jesiden eine wichtige Rolle im Kampf gegen den IS gespielt und stellen nun für die syrischen Jesiden die einzige Hoffnung gegen die Türkei und ihre Verbündeten dar.

Jesidische Mitglieder der PYD konnten in der kurdischen Verwaltung wichtige politische Positionen erringen und auch die Premierministerin der Region, Hêvî Îbrahîm Mustefa, gehört einer religiösen Minderheit ein: Sie ist Alevitin.

Hêvî Îbrahîm Mustefa ist die einzige Frau, die in Syrien als Premierministerin einer Region agiert.
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Ziviles Leben im Bürgerkrieg

Die 1951 geborene Premierministerin ist die einzige Frau in einem vergleichbaren Amt in ganz Syrien. In der traditionell sehr säkularen Region werden Frauenrechte sehr hoch geschrieben. Afrin besitzt ein Kultur- und Geistesleben, das durch den Zuzug kurdischer Intellektueller seit 2012 profitiert hat. Einige von ihnen haben 2015 die erste kurdische Universität in ganz Syrien gegründet, ein Jahr bevor die Universität in Qamischli ihre Pforten öffnete. Der lebendige Bazar der Stadt besitzt trotz ökonomischer Blockaden durch die türkischen Nachbarn eine überraschende Vielfalt an Waren. In der kleinstädtischen Mittelschicht gibt es einen Bedarf nach europäischen Cafés und syrischen Restaurants.

Das "Show Cafe" ersetzt westliche Ketten und dient als Treffpunkt mittelständischer Jugendlicher.
Foto: Thomas Schmidinger

Die Region wurde seit 2012 allerdings auch zum Zufluchtsort für hunderttausende Vertriebene aus andere Teilen Syriens, insbesondere aus dem lange umkämpften Aleppo. Nicht nur Kurden aus den umkämpften Städten, sondern auch zehntausende Araber wurden seit 2012 in Afrin aufgenommen. Auch wenn sich viele nur notdürftig als Tagelöhner über Wasser halten konnten, so fanden sie hier zumindest Sicherheit, notdürftige Unterkünfte für ihre Familien und Zugang zu Schulbildung für ihre Kinder.

Tagelöhner aus Aleppo, deren Familien in einem Zeltlager für Flüchtlinge leben, warten auf Arbeit.
Foto: Thomas Schmidinger

Kampf gegen die PKK

All dies ist nun durch den Angriff der Türkei und ihrer verbündeten Milizen gefährdet. Bereits seit Monaten werden grenznahe Dörfer in Afrin von türkischem Boden aus beschossen. Die am Sonntag begonnene Offensive hat jedoch einen anderen Charakter: Mit Bodentruppen will die Türkei nun die kurdische Verwaltung, die sie aufgrund ihrer Nähe zur PKK als Terrororganisation betrachtet, vernichten. Die türkische Regierung hat dabei auch keine Hemmungen, für ihre Invasion Waffen zu verwenden, die ihnen ihre Nato-Partner in den letzten Monaten geliefert hatten. Die regierungsnahe türkische Zeitung "Milliyet" veröffentliche Fotos von der Invasion, bei der deutsche Leopardpanzer zu sehen waren. Deren Produzenten, die Firma Rheinmetall, hatte schon vor dem türkischen Angriff gegen Afrin eine Nachrüstung der türkischen Leopard II Panzer angekündigt und plant die Errichtung einer Panzerfabrik in der Türkei. Bei Luftangriffen waren am Sonntag in der Stadt selbst und in mehreren Dörfern Kämpfer und Zivilisten ums Leben gekommen. Die konkreten militärischen Erfolge der Türkei und ihrer Verbündeten sind allerdings unklar. Kurdische Quellen meldeten am Sonntagabend, dass Angriffe der Bodentruppen abgewehrt werden konnten, während türkische Quellen militärische Erfolge und die Einnahme eines Dorfes meldeten.

Lebendiges Kleinstadtleben im Stadtzentrum von Afrin.
Foto: Thomas Schmidinger

Russisch-Türkische Deals

Unklar war zunächst auch das Verhalten Russlands, das nach den Siegen des syrischen Regimes zum wichtigsten Machtfaktor im Land wurde und sich mit den USA auf eine Demarkationslinie entlang des Euphrats geeinigt zu haben scheint. Während Russland eine Einigung mit der Türkei ebenso dementierte, wie den von türkischen Medien gemeldeten Abzug der russischen Truppen aus dem von Afrin kontrollierten Luftwaffenstützpunkt Menagh, so melden kurdische Quellen, dass es einen Deal zwischen Russland und der Türkei gegeben habe, der der Türkei die Invasion in Afrin erlaube. Tatsächlich ist es schwer vorstellbar, dass die Türkei einen Angriff mit Bodentruppen gewagt hätte, wenn Russland nicht die Bereitschaft signalisiert hätte, diesen hinzunehmen. Das monatelange Zögern der Türkei und die langen Drohungen Erdoğans, sind nur mit dem bisherigen Veto Russlands zu erklären, ein Veto das offenbar Geschichte ist. Was Russland dafür von Erdoğan erhalten hat, ist unklar.

Immer deutlicher wird jedoch eine weitere Intention Russlands: Die Angriffe der Türkei sollen die Kurden in die Arme des Regimes treiben. Schon im Dezember 2017 wurde im kurdischen Viertel von Aleppo, Şêxmeqsûd,‎ das seit 2012 unter Kontrolle der YPG steht, erstmals wieder die syrische Fahne gehisst, ohne dass das Viertel von der syrischen Armee erobert worden wäre. Vielmehr stellte die partielle Reintegration des von etwa 30.000 Menschen bewohnten Viertels eine Grundvoraussetzung für die Auflösung der Blockade des Stadtteils dar. Im Gegenzug begann Ende 2017 die Lieferung von Treibstoff und Lebensmitteln nach Şêxmeqsûd‎. Eine solche schrittweise Reintegration unter die Herrschaft des Regimes wäre eine mögliche Reaktion auf den Anhaltenden Druck der Türkei. Bereits im Dezember spekulierten russische Medien damit, dass ein ähnlicher Schritt auch in Afrin gesetzt werden könnte. Aldar Khalil, ein führendes Mitglied der "Bewegung für eine Demokratische Gesellschaft" (TEV-DEM), der Massenorganisation der PYD, erklärte am Sonntagnachmittag, dass Russland offen Druck auf die Verwaltung von Afrin ausgeübt habe, die Region wieder dem Regime zu überlassen, damit dieses Afrin gegen die Türkei verteidigen könne. Die kurdische Seite habe dieses "Angebot" allerdings abgelehnt.

Die Kurdischen Volks- und Frauenverteidigungseinheiten YPG und YPJ wollen Afrin selbst verteidigen.
Foto: Thomas Schmidinger

De facto Aufruf zum Jihad

Während die türkische Armee und ihre verbündeten Milizen weiter versuchen syrisches Territorium zu besetzen, wurde in türkischen Moscheen am Samstag auf zentrale Anordnung des Türkischen Amts für Religion (Diyanet) durch die Rezitation der Sure 48 (al-Fatah, der Sieg) de facto zum Jihad aufgerufen. Die türkische Öffentlichkeit, die seit Monaten massiver Propaganda gegen die Kurden ausgesetzt ist, wird auf allen Ebenen gegen den Versuch der kurdischen Selbstverwaltung im Nachbarland mobilisiert. Sollte die Türkei wirklich die gesamte Feuerkraft seiner Armee einsetzen, ist ein militärischer Sieg der kurdischen Seite wohl kaum vorstellbar.

Auch internationale Proteste hielten sich bislang in Grenzen. Aus Österreich war bisher nur vom EU-Abgeordneten Josef Weidenholzer Protest zu hören und auch sonst meldeten sich innerhalb der EU bisher lediglich einige Vertreter von Linkspartein zu Wort. Verurteilt wurde das türkische Vorgehen bislang von Frankreich und den USA, die Uno tagt am Montag. Von Deutschland oder Österreich, dessen Außenministerin eine baldige Türkei-Reise angekündigt hatte, waren bislang keine Proteste zu hören.

Die Türkei würde allerdings wohl nur auf massiven internationalen Druck reagieren. Solange dem türkischen Präsidenten Erdoğan vermittelt wird, dass er mit dieser Kriegspolitik davonkommen wird, weiterhin als Nato-Mitglied willkommen ist und europäischen Panzer und andere Waffen erhalten wird, wird die türkische Regierung keinen Grund sehen, ihre Aggression gegen Afrin abzubrechen. (Thomas Schmidinger, 22.1.2018)