Oliver Rathkolb: "Die Denkmäler neu positionieren."

Foto: Matthias Cremer

STANDARD: Sie haben in der ORF-Sendung Thema eine Linie vom Empfang für Karl Schranz nach dessen Olympia-Ausschluss 1972 zu den Bemühungen der Regierung Kreisky für Toni Sailer nach dem Zakopane-Vorfall 1974 gezogen. Wie genau sah der Zusammenhang aus?

Rathkolb: 1972 gab es nach der Rückkehr von Schranz nach seinem Ausschluss von den Olympischen Spielen den unglaublichen auch medialen Triumphzug, die riesige Demonstration vor dem Kanzleramt und auf dem Heldenplatz und den Empfang bei Bundeskanzler Bruno Kreisky. Angestachelt durch eine sehr intensive Pressebetreuung von Unterrichts- und Sportminister Fred Sinowatz hat der ORF unter der Leitung von Gerd Bacher voll in die Orgel gegriffen und eine echte Massenmobilisierung bewirkt. Selbst Schranz war schon sensibilisiert und hat verhindert, dass er – wie geplant – mit einem Hubschrauber mitten auf dem Heldenplatz landet. Er wusste sehr wohl um die Geschichte dieses Platzes im Jahre 1938 und von Hitlers Rede zum "Anschluss".

STANDARD: Und was hat Kreisky von Schranz zu Sailer mitgenommen?

Rathkolb: Diese inszenierte Aufregung hat Kreisky stark irritiert und an die 30er-Jahre, vor allem ans Jahr 1938 erinnert, in dem es eine vergleichbare Massenhysterie in Wien gab, natürlich unter anderen Vorzeichen und mit anderen Zielen. Ab dem Schranz-Empfang war Kreisky und anderen politischen Akteuren bewusst, welchen Stellenwert Sport in der österreichischen Seele und Öffentlichkeit hat. Und 1974 war die Erinnerung an Toni Sailer und seine großen Sporterfolge nicht Geschichte, sondern fast noch Gegenwart. Da läuteten auf politischer Ebene natürlich die Alarmglocken. Und klarerweise wurde versucht, die Sache möglichst schnell und ohne großes Aufsehen vom Tisch zu bringen.

STANDARD: Welche Rolle hat dabei gespielt, dass man in der Angelegenheit mit einem kommunistischen Ostblockland umzugehen hatte?

Rathkolb: Wir sind im Kalten Krieg, wenn auch in einer Entspannungsphase, das Verhältnis Österreichs zu Polen ist relativ gut. Kreisky sieht Polen als ein Land, das sich langsam aus dem Ostblock und der sowjetischen Umklammerung lösen könnte. Es gibt ganz enge Wirtschaftsbeziehungen. Polnische Kohle ist für die verstaatlichte Industrie und die Voest in Linz extrem wichtig. Man will die guten Beziehungen sicher nicht in Frage stellen. Österreichische Behörden setzen sich bei Problemen im Ausland immer für österreichische Staatsbürger ein. Aber in dem Fall ist das in einer unglaublichen Geschwindigkeit und Effizienz gegangen, auch weil es sofort auf eine politische Ebene gehoben wurde.

STANDARD: Es war und ist oft die Rede davon, Sailer wäre in eine Falle getappt. Halten Sie es für möglich, dass der polnische Geheimdienst involviert war?

Rathkolb: Das ist für mich extrem unwahrscheinlich. Auch für Polen war das eine unangenehme Geschichte. Die Polen haben Österreich ja fast als Modell gesehen, die Neutralität galt auch in der polnischen kommunistischen Führung als mögliche Option, sich von der Sowjetunion weg zu bewegen. Warum soll ich diese Beziehungen mit so einer Aktion stören? Dem fehlt jede politische Logik.

STANDARD: Genießen Sporthelden in Österreich mehr Ansehen als anderswo?

Rathkolb: Das würde ich bestreiten. Schauen Sie sich die USA an. Der Freispruch für den berühmten Footballer O.J. Simpson im Strafprozess? Aus meiner Sicht ein eindeutiges Fehlurteil. Oder in Südafrika das Verfahren gegen Oscar Pistorius, ein ähnliches Phänomen. Sportler sind in vielen Ländern bedeutende Persönlichkeiten. In Österreich kommt, im Unterschied zu anderen Ländern, dem Skisport ganz besondere Bedeutung zu. Auch im Fußball oder im Tennis hat es Stars gegeben, aber nicht so wirkliche Überhelden wie im Skifahren. Das hängt mit der Identitätskonstruktion zusammen. Die schöne Landschaft und der Skisport, so hat sich Österreich nicht erst in den Nachkriegsfilmen beschrieben, sondern schon lange vor dem Krieg. Und auch die Nazipropaganda hat sich dieser Verbindung Berge, Schnee, Natur und Skifahren bedient.

STANDARD: Toni Sailer war der erste, der nach dem Krieg große Erfolge hatte. Er verkörperte quasi den Wiederaufbau.

Rathkolb: Deshalb ist uns der Skisport so wichtig wie den Deutschen der Fußball. Oder den Tschechen das Eishockey. Der Moment, als das tschechische Nationalteam die Sowjets geschlagen hat, war für die tschechische Volksseele ganz wichtig.

STANDARD: Täuscht der Eindruck, dass andere Länder auf wissenschaftlicher oder intellektueller Ebene quasi mehr Helden anzuführen haben als Österreich?

Rathkolb: Da könnten Sie Recht haben. Schauen Sie sich den Heldenplatz an, das sind Helden aus einer Zeit, von der die meisten Österreicher keine Ahnung mehr haben. Rankings von Persönlichkeiten, die den Österreichern wichtig sind, sind mit Mozart et cetera meistens sehr retro angelegt. Aber die Sporthelden sind oft lebende Helden, Helden zum Angreifen. Und jede Generation hat oder erfindet ihre Sporthelden und Heldinnen, das ist sehr zentral.

STANDARD: Jetzt haben viele Menschen das Gefühl, dass an einem Denkmal gekratzt wird. Sind Sie überrascht von den Reaktionen auf die Recherchen zum Akt Sailer?

Rathkolb: Nein, überhaupt nicht. Ich habe in meiner Dissertation Anfang der 80er-Jahre viel Neues, Kritisches über Herbert von Karajan, Elisabeth Schwarzkopf und Karl Böhm in der NS-Zeit gefunden. Das ist sogar in der New York Times publiziert worden. In Österreich wurde meine Dissertation nicht einmal verlegt. Darüber wollte man damals selbst in der wissenschaftlichen Branche nichts hören oder lesen. Mittlerweile sind in vielen Bereichen die Denkmäler entsprechend neu positioniert worden. Da gibt es inzwischen kritische Auseinandersetzungen. Der Sport befindet sich da in einem Nachziehverfahren.

STANDARD: Wie beurteilen Sie die Recherchen und Veröffentlichungen zum Akt Sailer?

Rathkolb: Ich begrüße das. Wir müssen uns vom Geniekult der 19. Jahrhunderts verabschieden. Das heißt davon verabschieden zu glauben, dass bedeutende Persönlichkeiten, die Großartiges geleistet haben, perfekte Übermenschen sind. Auch Helden sind Menschen und weder Götter oder Halbgötter. Und gerade das ist ja interessant: sich die Widersprüche und Entwicklungen anzusehen. Vor kurzem hab ich auf ORF III eine hervorragende Doku über Annemarie Moser-Pröll gesehen, die sehr offen über diesen unmenschlichen Druck gesprochen hat, dem junge Sportler und Sportlerinnen ausgesetzt werden. Sie hat das genau formuliert, gesagt: Es hat mir keiner geholfen dabei. Der Skiverband hat sie wirklich extrem hart ausgebildet, mit Charly Kahr und anderen, aber eine psychologische oder Medien-Betreuung gab es nicht. Toni Sailer wurde einer Heldenverehrung ausgesetzt, das hat an ihm genagt. Der Fall, wie er jetzt dekonstruiert wird, liefert in meinen Augen durchaus auch Positives über Sailer, aber gleichzeitig viel Negatives über sein Umfeld und die Gesellschaft. Der Skiverband könnte und müsste daraus heute noch Lehren ziehen. Aber dazu zeigt man leider keine Bereitschaft.

STANDARD: Was die Veröffentlichungen zum Akt Sailer angeht, hat man das Gefühl, sie werden nicht nur von Generation zu Generation, sondern auch in der Stadt und am Land sehr unterschiedlich beurteilt.

Rathkolb: Die kritische Sicht auf Helden ist, wenn man so will, eher ein urbanes Phänomen. Aber vor allem ist es auch eine Frage der Bildung. Wer sich intensiv mit Sport und Sportgeschichte auseinandersetzt, hat einen anderen Blick. Der wird nicht so bald oberflächliche Heldenverehrung betreiben – und die Sportgeschichte in Österreich hat wirklich internationales Niveau erlangt und zählt für mich derzeit zu den innovativsten Disziplinen in der Geschichtswissenschaft, wie auch zahlreiche Statements und Kommentare aus dieser Gruppe gerade jetzt dokumentieren. Ich hoffe sehr, dass die kritische Sportgeschichte im Haus der Geschichte Österreich am Heldenplatz eine wichtige Rolle spielen wird.

STANDARD: Wenn die Veröffentlichungen kritisiert werden, fällt nicht selten das Wort Pietätlosigkeit. Spielt das für Sie in der Betrachtung der Vergangenheit keine Rolle?

Rathkolb: Dann bräuchte ich einen anderen Job. Ich finde, das ist das falsche Argument. Es geht nicht um die Störung der Friedhofsruhe, ganz im Gegenteil. Es ist ja nicht nur der Vorfall in Zakopane wichtig, sondern der Kontext. Das gehört meiner Meinung nach auch zur Geschichte des ÖSV. Im Bergsteigen gab es vor einigen Jahren heftige Auseinandersetzungen, da haben kritische junge Geister durchgesetzt, dass auch die dunklen Seiten der Geschichte des Alpenvereins oder des Gebirgsvereins aufgearbeitet wurden. Und ähnlich sollte jetzt auch die Reaktion der Sportfunktionäre und der Politiker aussehen. Das Argument der Pietätlosigkeit lenkt von den strukturellen Problemen der Sportausbildung und der Sportstrukturen ab. In vielen Sportstrukturen wäre es Zeit, dass eine jüngere Generation ans Ruder kommt.

STANDARD: Im Interview mit der ORF-"Thema"-Redakteurin Katharina Krutisch führten Sie zwei, wenn man so will, Helden an, mit denen man sich mittlerweile auch kritisch auseinandersetzt. Kreisky ist der eine, der andere ist der Komponist Richard Wagner.

Rathkolb: Im Falle Wagners gibt es immer noch viele, die mit ihm und mit sich selbst ringen. Aber in Bayreuth gibt es inzwischen selbstverständlich Ausstellungen über vertriebene jüdische Sänger und Dirigenten und Antisemitismus. Die Wagner-Vereine hängen teils immer noch dem Geniekult an, aber beispielsweise in Wien geht die Vorsitzende einen neuen anderen und kritischen Weg. Wir wollen immer das perfekte, gottähnliche Genie, aber wir müssen irgendwann auf die Erde kommen. Diese außergewöhnlichen Persönlichkeiten im Sport, in der Kunst oder in der Politik sind weder Götter noch Halbgötter, sondern sie sind Menschen mit außergewöhnlichen Fähigkeiten.

STANDARD: Für Kreisky gilt dasselbe?

Rathkolb: Über Kreisky habe ich viel gearbeitet, auch er hatte natürlich Schattenseiten, man denke nur an seine wirklich aggressive, untergriffige und nicht zu rechtfertigende Auseinandersetzung mit Simon Wiesenthal. Auch das muss man thematisieren. Dennoch bleibt Kreisky für viele ein politisches Vorbild. Aber ich muss alles wissen, es genügt nicht nur, ihn als Überhelden zu feiern. Dann wird er auch viel spannender. (Fritz Neumann, 26.1.2018)