Forscher entdeckten ein Fossil, das belegt, dass der moderne Mensch bis zu 60.000 Jahre früher Afrika verlassen hat als ursprünglich angenommen.
Foto: Gerhard Weber, University of Vienna

Wien – Die Wurzeln des modernen Menschen liegen im südlichen Afrika, darin sind sich heute die meisten Wissenschafter einig. Weitgehende Übereinstimmung herrscht auch darüber, welchen Weg Homo sapiens genommen hat, um den Kontinent zu verlassen: Bisherige Funde lassen wenig Zweifel daran, dass der Mensch über den Nahen Osten den Rest der Erde erobert hat.

Weit weniger Klarheit gibt es in der Fachwelt darüber, wann dieser Exodus stattgefunden hat. Die ältesten bisher bekannten nichtafrikanischen Homo-sapiens-Funde stammen aus Israel und wurden auf ein Alter von 90.000 bis 120.000 Jahre datiert. Genetische Untersuchungen lieferten allerdings im vergangenen Jahr stichhaltige Hinweise darauf, dass sich der Mensch bereits früher außerhalb Afrikas mit Neandertalern vermischt haben könnte.

Der Knochen wurde in der Misliya-Höhle im israelischen Karmel-Gebirge freigelegt.
Foto: Mina Weinstein-Evron,Haifa University

Nun hat eine internationale Forschergruppe unter der Leitung von Israel Hershkovitz von der Universität Tel Aviv in der Misliya-Höhle im israelischen Karmel-Gebirge ein Fossil entdeckt, das diese DNA-Ergebnisse bestätigen würde: eine linke Oberkieferhälfte mit beinahe vollständiger Bezahnung. Dass es sich dabei tatsächlich um einen Homo sapiens handelt, konnte von Gerhard Weber vom Department für Anthropologie der Universität Wien und seinem Team anhand unterschiedlicher Methoden bewiesen werden.

Virtuelle Anthropologie

Einerseits wurden die klassischen Verfahren der Anthropologie auf den Kieferknochen und die gut erhaltenen Zähne angewandt. Zusätzlich wurde das Fossil in Wien mithilfe der ultrahochauflösenden Mikrocomputertomografie digitalisiert. Die Forscher um Weber sind seit Jahrzehnten führend in der Entwicklung und Anwendung der sogenannten "Virtuellen Anthropologie". So konnte Weber das Innere des "Misliya-1" genannten Knochens durchleuchten und mittels virtueller 3D-Modelle den Kiefer und die Zähne vermessen und vergleichen.

Dass es sich tatsächlich um den Kiefer eines Homo sapiens handelt, haben Gerhard Weber und sein Team von der Universität Wien anhand von Mikrocomputertomografien und der genauen virtuellen Vermessung des prähistorischen Fundstücks nachgewiesen.
Illustration: Gerhard Weber/Universität Wien

Die Abstimmung mit afrikanischen, europäischen und asiatischen homininen Fossilien sowie mit heute lebenden Menschengruppen machte letztlich klar, dass man es hier wirklich mit einem modernen Mensch zu tun hat. "Genauer gesagt war 'Misliya-1' sogar ein supermodernes Exemplar, das sich anatomisch nicht im mindesten von heute lebenden Menschen unterscheidet", so Weber. Der Kiefer gehörte vermutlich einem jungen Erwachsenen. Da der Weisheitszahn bereits vorhanden, aber noch nicht abgenutzt war, gehen die Forscher von einem Sterbealter von 18 bis 20 Jahren aus.

Fast 200.000 Jahre altes Kieferfragment

Das Außergewöhnliche an dem Knochen ist allerdings sein Alter: Mittels dreier unterschiedlicher Methoden, die alle praktisch deckungsgleiche Ergebnisse lieferten, datierten die Wissenschafter um Hershkovitz ihn auf 177.000 bis 194.000 Jahre. Er ist damit auch beinahe genauso alt wie die bislang ältesten Knochenfunde in Ostafrika. Klar ist jedenfalls, dass der Fund nicht jünger als 160.000 Jahr sein kann, denn etwa zu dieser Zeit stürzte die Misliya-Höhle ein und konservierte neben dem Kieferteil auch zahlreiche Steinwerkzeuge, Feuerstellen und Tierknochen.

Die Grafik zeigt einige Fundorte von frühen Homo-sapiens-Vertretern in Afrika und dem Nahen Osten: Die Fossilien aus Jebel Irhoud (Marokko) sind rund 315.000 Jahre alt und damit älter als die nun entdeckten aus der Misliya-Höhle. Die Funde aus Omo Kibish (195.000 Jahre) und Herto (160.000 Jahre) sind dagegen annähernd so alt wie "Misliya-1" (177.000 bis 194.000 Jahre).
Illustration: Rolf Quam, Binghamton University

Komplexe Frühgeschichte

"Dieser Fund wirft einiges um, was wir heute in den Lehrbüchern stehen haben", beschreibt Weber die Bedeutung des Fossils gegenüber dem STANDARD. Das offensichtlich viel frühere Auftauchen des modernen Menschen in Eurasien zeige, dass seine Auswanderungsgeschichte weitaus nicht so geradlinig verlaufen sei wie gedacht, sondern sich viel komplexer gestaltete. "Bisher ist man davon ausgegangen, dass sich Homo sapiens nach seiner Entwicklung im Osten Afrikas vor etwa 200.000 Jahren zunächst nur lokal ausgebreitet hat und erst vor 120.000 bis 90.000 Jahren nach Vorderasien kam."

Das sei offensichtlich falsch, so Weber. Der moderne Mensch dürfte sich laut der nun im Fachjournal "Science" publizierten Studie in Wahrheit womöglich schon über 60.000 Jahre eher auf den Weg in die Welt hinaus gemacht haben, was für seine weitere Entwicklung von besonderer Bedeutung sei: "Nachdem in Eurasien bereits der Neandertaler und andere Frühmenschen existierten, wird es zwischen diesen und dem modernen Menschen wahrscheinlich schon früher Begegnungen gegeben haben – mit entsprechendem biologischen und kulturellen Austausch", sagt Weber. (Thomas Bergmayr, 25.1.2018)