Andy Weir: "Artemis"
Klappenbroschur, 432 Seiten, € 15,50, Heyne 2018 (Original: "Artemis", 2017)
Hier ist nun also das Ding, das die unmöglichste Aufgabe bewältigen sollte, der sich ein Buch seit langer Zeit stellen musste: den Mega-Erfolg von "Der Marsianer" zu wiederholen, wenn nicht gar zu übertreffen. Schon unter normalen Umständen hat ein Nachfolgewerk ja mit dem Widerspruch zu ringen, dass alle gerne etwas ganz Neues hätten und gleichzeitig dasselbe wie beim ersten Mal; 's war doch so schön.
Und von normalen Umständen konnte bei Andy Weir ohnehin nie die Rede sein. Man stelle sich vor: Da schreibt jemand seinen ersten Roman, publiziert ihn selbst, findet immer mehr Leser und nachträglich einen Verlag, landet einen weltweiten Mega-Bestseller – und der wird dann auch noch umgehend als Hollywood-Blockbuster verfilmt. Mal ehrlich: Wie hoch war die Wahrscheinlichkeit? Und wie hoch ist die, dass es sich wiederholt?
Tut es natürlich nicht, darum hier zwei Tipps vorab: 1) Am besten "Artemis" als Werk eines neuen Autors behandeln und nicht ständig Vergleiche zum "Marsianer" ziehen. So viel war schon vorher klar, ich ergänze das aber nach der Lektüre noch mit: 2) Weiterlesen. In der zweiten Hälfte wird der Roman besser.
Schauplatz Mond
Vom Mars wechseln wir diesmal zum Mond. Dort befindet sich im späten 21. Jahrhundert unweit der Landestelle von Apollo 11 die Stadt Artemis mit ihrer multikulturellen Bevölkerung. 2.000 Menschen leben hier in fünf Kugeln aus Aluminium und Gestein, die zur Hälfte im Boden versenkt sind. Insgesamt sieht der Komplex ein bisschen wie das Brüsseler Atomium aus; Karte und Lageplan sind im Buch enthalten. Den Sauerstoff liefert eine nahegelegene Alu-Fabrik als Nebenprodukt – alle anderen Ressourcen sind nicht so verschwenderisch verfügbar und daher entsprechend teuer.
Besonders luxuriöse oder auch verbotene Güter schmuggelt die Ich-Erzählerin Jazz Bashara ein, eine Saudi, die seit ihrer Kindheit in Artemis lebt. Offiziell ist sie eine Kurierin, und wir lernen sie kennen, als sie gerade durch die Aufnahmeprüfung für die Gilde rasselt, die das Monopol auf Außeneinsätze und Touristenführungen innehat. Wieder einmal ist damit ihr Traum vom großen Geld ein Stück in die Ferne gerückt. Jazz' Werdegang können wir über einen jahrelangen E-Mail-Wechsel mit einem Brieffreund auf der Erde nachverfolgen. Dieses Element wirkt zwar etwas willkürlich, liefert aber immerhin eine hübsche Erklärung ab, was Jazz antreibt. Schon als Kind bekannte sie nämlich: Ich will keinen Job. Wenn ich groß bin, will ich reich sein.
Da aus dem Gilden-Job nichts wurde und die Schmuggeleinkünfte sich auch in Grenzen halten, kommt Jazz ein unmoralisches Angebot des Milliardärs Trond Landvik gerade recht: Der will die Aluminium-Fabrik übernehmen, und um die jetzigen Besitzer auszubooten, soll Jazz deren Infrastruktur sabotieren. Selbstverständlich läuft dann nichts wie geplant, und ehe sich's Jazz versieht, ist sie mit einem Doppelmord konfrontiert und vor dem Killer auf der Flucht. Als dann auch noch das Schicksal der ganzen Stadt auf dem Spiel steht, könnte aus der kratzbürstigen und moralisch flexiblen Protagonistin tatsächlich noch eine echte Heldin werden.
(Try to) Get into the Groove
Die Sprache des Romans ist – keine wirkliche Überraschung nach dem "Marsianer" – flapsig, die Sätze sind in der Regel auffallend kurz. Letzteres ist für mich immer etwas gewöhnungsbedürftig: so einfach, dass es schon wieder schwierig wird, in den Flow zu kommen. Speziell in der ersten Romanhälfte ist es aber etwas anderes, das den Fluss stört. Einmal mehr hat sich Andy Weir, eindeutig ein Vertreter der Hard SF, zu sämtlichen Weltraum- und Technologiethemen den Wolf recherchiert. Und dieses Wissen will dann auch eingebaut sein. Zeitweise kommt man sich in "Artemis" vor wie auf einem YouTube-Kanal, in dem einem Hipster-Nerd-Hybride betont locker demonstrieren, was für eine endgeile Sache Wissenschaft ist, und dabei eine super Zeit haben.
Die meisten Menschen wissen es nicht, aber auf dem Mond gibt es eine geradezu lächerlich große Menge an Sauerstoff. Man braucht nur teuflisch viel Energie, um an ihn heranzukommen. Von solchen Sätzen wimmelt es hier nur so. Das Problem: Sie sind als allgemeingültige Fakten stets im Präsens gehalten, stehen aber mitten in einem Text, der im Imperfekt erzählt wird. Der ständige Tempuswechsel – sogar während Action-Sequenzen – ist auf Dauer irritierend. In der zweiten Romanhälfte bessert sich das zum Glück, da sind Weir die Fun Facts offenbar schon weitgehend ausgegangen. Nun wird "Artemis" zu einer waschechten Caper Story. Die beinhaltet zwar einen dicken Denkfehler (natürlich nicht auf der Technik-Seite, Weirs Spezialgebiet), aber sei's drum. Hauptsache unterhaltsam.
Ende gut, alles gut
Weirs Vorliebe fürs Physikalisch-Technologische führt natürlich auch wieder zu zahlreichen prozeduralen Passagen vulgo angewandtem Bastelspaß – etwa wenn Jazz ihre kreativen Sabotageakte durchführt. Interessanterweise ist neben dieser erwartbaren Stärke aber auch die Figurenzeichnung recht gelungen. Auf dezent-indirekte Weise versteht es Weir, uns das komplizierte (bei Jazz ist alles Menschliche kompliziert) Wechselspiel mit ihrem Vater, mit beruflichen Rivalen, dem Ex-Freund und dem möglichen Neuen oder mit der Administration von Artemis nahezubringen, ohne auf Küchenpsychologie zurückgreifen zu müssen. Zu lesen sind die zwischenmenschlichen Nöte in der Regel recht vergnüglich – etwa wenn der liebenswert unbeholfene Ukrainer Svoboda ein wiederverwendbares Kondom entwickelt hat und Jazz hartnäckig für einen Produkttest gewinnen will.
Insgesamt: nicht übel, nicht überragend, tendenziell unauffällig. "Artemis" hat wie erwartet gezeigt, dass auch Andy Weir nur mit Wasser kocht. Bei wie viel Grad dieses unter den Bedingungen des Mondes zu sieden begänne, steht selbstverständlich auch drin.