Ist die Gesamtschule die Antwort auf die Probleme im österreichischen Bildungssystem – oder wirft sie bloß weitere Fragen auf?

Foto: elmar gubisch

Zum gefühlten fünften Mal hat Karl Heinz Gruber ein leidenschaftliches Plädoyer für die gemeinsame Schule der Zehn- bis Vierzehnjährigen vulgo "Gesamtschule" gehalten (der Standard, 19. Jänner 2018). Ich teile seinen Wunsch nach mehr Chancengleichheit als zentrale Forderung an die Bildungspolitik. Ich bezweifle allerdings, dass dieses normative Ziel auf dem Weg erreicht werden kann, den er vorschlägt.

Gruber wirft Bildungsminister Heinz Faßmann vor, sich hinter dem "Pseudoargument" zu verstecken, dass es in der Bildungswissenschaft "unterschiedliche Meinungen" gebe. Im Gegenteil gebe es anerkannte und "gesicherte wissenschaftliche Befunde". Das mag schon sein – das Problem besteht aber darin, dass empirische Daten und Statistiken manchmal unterschiedlich interpretiert werden können. Dazu kommt, dass empirische Wissenschaft als solche keine normativen Forderungen begründen kann (siehe Humes Gesetz).

Der Vorwurf der Ideologielastigkeit kann daher nicht nur gegen Faßmann und andere Regierungsmitglieder, sondern auch gegen Gruber selbst erhoben werden. In den letzten Jahren haben Gruber und etwa sein Fachkollege Stefan Hopmann teilweise völlig konträre Interpretationen und Vorschläge für das Schulsystem vorgelegt. Es wäre unsinnig, den einen als seriösen und aufgeklärten Wissenschafter und den anderen als unaufgeklärten Ideologen zu sehen, der gefälligst den Mut haben soll, sich end- lich des "eigenen Verstandes zu bedienen".

"Selektion" ist polemisch

Schon Sprache ist normativ aufgeladen. Es stimmt, dass der Begriff "differenziertes Schulsystem" die Situation verharmlost. Andererseits ist der von Gruber gebrauchte Begriff "Selektion" polemisch, da er Grubers politische Gegner in das rechte Eck stellt. "Selektion" gab es bei der Ankunft in den NS-Vernichtungslagern. Dieser Begriff sollte daher in seinem historischen Kontext verwendet werden. Grubers Vorwürfe und Begrifflichkeit haben mit empirischer Wissenschaft wenig zu tun.

Grubers zentrale Forderung sind "sozial und begabungsmäßig durchmischten Stammklassen". Einzelne Schüler und Schülergruppen sollen bei Bedarf "für Stunden, Halbtage oder längere Stütz- und Förderkurse den Klassenverband verlassen".

Das ist höchstwahrscheinlich schwer finanzierbar – abgesehen davon, dass die Lehrkräfte und meistens die Räumlichkeiten fehlen. Auch die nächsten Regierungen würden das dafür erforderliche Geld nicht auftreiben. Als betroffener Lehrer wünsche ich mir außerdem, dass Investitionen so getätigt werden, dass die Basics funktionieren: die dringend nötigen Sanierungen an der Bausubstanz, die Ausstattung der Computerräume, die Reinigung von Schulgebäuden, die Wartung von Heizungen oder die Einhaltung pädagogisch sinnvoller Klassengrößen.

Natürlich dürfen die Lehrkräfte in diesen extrem heterogenen Lerngruppen laut Gruber "individualisiertes Lernen ... fördern". Unvermeidliches Ergebnis: die völlige Überforderung der Lehrkräfte. Spätestens nach fünf Jahren Unterricht ist schon jetzt bei vielen Lehrkräften der hehre Idealismus verflogen, und sie sind zu skeptischen Pragmatikern mutiert. Auf typische Phrasen aus der Bildungswissenschaft und Politik ("Heterogenität als unglaubliche Chance und Herausforderung, die gemeistert werden kann") reagieren sie mit einiger Berechtigung meist mit Zynismus. Die gebetsmühlenartig vorgetragene "Individualisierung" bleibt auf der Strecke.

Die Eltern würden noch mehr in die Privatschulen flüchten, wie das etwa in England der Fall ist. Oder es gibt ein Phänomen wie in England oder den USA: Die Schulen mit sehr guten Ergebnissen finden sich nur in den wohlhabenden Bezirken, und wer es sich leisten kann, zieht in diese Gegenden. Die anderen, die sich die Immobilienpreise nicht leisten können, haben Pech gehabt. Hier bleibt genau jene Chancengleichheit auf der Strecke, die Reformer wie Gruber gefördert haben möchten. Die soziale Ungleichheit wird damit nur verschärft.

Vorwurf der Heuchelei

Viele Lehrkräfte beobachten genau, in welche Schule die Befürworter der gemeinsamen Schule der Zehn- bis Vierzehnjährigen ihre eigenen Kinder schicken – etwa manche Politiker der SPÖ oder der Grünen. Fallweise ist es ein öffentliches "Elitegymnasium", manchmal auch eine katholische Privatschule. Von Lehrerseite wird dann schnell der Vorwurf der Heuchelei erhoben – mit einiger Berechtigung.

Natürlich könnte es vielleicht sein, dass irgendwann einmal eine Bundesregierung viel mehr Geld in die Schulen investiert, sodass Grubers Modell sinnvoll umgesetzt werden kann. Ich gebe nur zu bedenken: Wir leben nicht in Utopia, sondern in Österreich. (Georg Cavallar, 31.1.2018)