"Schuhe ausziehen oder anlassen?" Die Frage beim Betreten der Wohnung von Anna Reiter ist nicht höflich gemeint. Es ist eine Glaubensfrage: Gerade hat die 29-Jährige als neue Marketingchefin der Wiener Schuhmanufaktur Ludwig Reiter zu arbeiten begonnen. Die stellt seit 1885 rahmengenähte Modelle in Handarbeit her – zu haben um 500 Euro und aufwärts das Paar.

Anna Reiter ist mit dem Geruch von Leder aufgewachsen. Sie gehört zur fünften Generation der Wiener Schuhmanufaktur Ludwig Reiter. Hier sitzt sie sogar auf Schuhleder. Ihr Onkel hat die Couch daraus gefertigt.
Foto: Christian Benesch

Sechs Monate nach Anna Reiters Umzug aus London stehen noch überall gepackte Koffer in der Wohnung. Sieben Jahre hat sie in England gelebt, ganz ankommen in Wien wird sie wohl erst in einiger Zeit: "Schuheausziehen – das ist so ein österreichischer Brauch. In England gibt es das nicht. Lassen Sie Ihre bitte an!"

Reiter nimmt auf einer Ledercouch Platz und damit mitten in der Geschichte ihrer Familie: "Die Couch ist von meinem Onkel. Er hat sie Ende der 1980er-Jahre mit der Möbelwerkstätte Wittmann gefertigt – aus Scotchgrain-Leder, wie es auch bei guten Schuhe verwendet wird." Annas mittlerweile verstorbener Onkel Lukas war Architekt und hat unter anderem die Schuhmanufaktur im Nebengebäude von Schloss Süßenbrunn konzipiert, wo Ludwig Reiter seit 2010 produziert. "Das gute Stück hat mich überallhin begleitet, sogar drei Umzüge in London mitgemacht." Immer wenn Anna Reiter London sagt, spricht sie es aus, als führe sie diese Unterhaltung in einem herrschaftlichen Haus in Knightsbridge und nicht in einer Döblinger Wohnung.

"Sobald ich auf der Couch Platz nehme, werde ich ruhig und kann kreativ sein", sagt sie. Neben dem Möbel stehen Gepäckstücke, die nicht vom Umzug aus London stammen: eine alte Hutschachtel und ein Schiffskoffer, die Annas Großvater Ludwig Reiter II. gehörten. Daran baumeln Etiketten, die auf eine Atlantikquerung schließen lassen. "Boston", präzisiert sie. Ihr Großvater hat dort bis 1908 eine Lehre bei einem renommierten Schuhmacher absolviert.

Patschenkino

Auf der anderen Seite der Couch steht noch mehr Familiengeschichte – die ihres britischen Mannes James. Anna und er haben kurz vor dem Umzug in London geheiratet. Der alte Fernseher seines Großvaters steht aber auch für das, was James nun in den gemeinsamen Wiener Haushalt einbringt: Spontaneität gepaart mit britischem Humor – "das geht mir sehr an London ab", sagt Anna. "In dem Fernseher schwamm lange Zeit ein tropischer Fisch. Wir mussten ihn in England lassen. Als Blumentopf macht sich der Kasten aber auch nicht schlecht." Wenn James gerade kein Patschenkino zum Aquarium umfunktioniert, fotografiert er. Etwa die verlassene Schulbibliothek in Detroit, die jetzt als Lieblingsbild über der Lieblingscouch von Anna hängt. Man merkt ihr an, wie sehr sie ihn für seine Kreativität bewundert.

Apropos Patschen: Darf man die tragen als frischgebackene Fürsprecherin rahmengenähter Schuhe? "Die Winter in Wien sind lang und kalt, da brauchst du warme Patschen", sagt Anna Reiter schmunzelnd, obwohl sie feine Slipper trägt. Das Damenmodell ist im vergangenen Jahr bei einer Zusammenarbeit von Ludwig Reiter mit dem in London ansässigen It-Label des Tirolers Peter Pilotto entstanden. Für Anna Reiter ist es mehr als nur Anschauungsmaterial, wie aus traditionellem Handwerk und exzentrischem Design ein Paar Schuhe werden.

"Die eineinhalb Jahre, die ich für Peter in London gearbeitet habe, sind unglaublich inspirierend gewesen. Es war die Arbeit mit ihm, die mich zurück nach Wien, zurück zu meinen Wurzeln gebracht hat." Für ihre sechsjährige Tätigkeit bei Louis Vuitton findet sie ähnliche wertschätzende, aber nicht nur euphorische Worte. "Dort habe ich gelernt, wie man sich als Frau in der Modewelt beweist. Trotzdem störte es mich, dass man vermutlich immer ein kleines Zahnrad in der großen Maschinerie bleiben wird."

Ledergeruch

Ab wann waren Schuhe eigentlich ein Thema für Anna Reiter? "Schuhe sind in unserer Familie natürlich permanent Thema gewesen. Als Kind habe ich bei jeder Autofahrt mit meinem Vater das Leder gerochen, das er transportierte. Und beim Abendessen wurde häufig darüber geredet, welche Prototypen eingetragen werden müssen. Als Jugendliche bin ich mit unseren Joggingschuhen so lange querfeldein gelaufen, bis sie weich waren. Das dauert bei ledergefütterten Sportschuhen und ist auch ein wenig schmerzhaft."

Annas zwei Jahre jüngere Schwester Magdalena und sie selbst haben früh begonnen, dem Vater Vorschläge für das Design der Schuhe zu machen. Fast immer waren sie bei den Besprechungen für neue Kollektionen dabei, die Zusammenarbeit mit Peter Pilotto hat Anna selbst in die Wege geleitet. Werden Schuhe von Ludwig Reiter also bald ganz anders aussehen? "Nein, das Grundsätzliche soll bleiben, wie es ist. Aber ein bisschen Mut zur Farbe würde ich mir für Wien und Ludwig Reiter wünschen. Und mehr Damenschuhe darf es in Zukunft auch geben, momentan beträgt der Anteil bei uns nur rund 30 Prozent."

Anna Reiter vermisst an London auch den modischen Mut. "Müsste ich Wien in Farben beschreiben, ich würde sagen, es ist eine graubraune Stadt", meint sie in ihren bunten Pilotto-Slippern, einem gemusterten Fransentop – und dem braunen Rock. Wie gut für sie, dass sie erst halb angekommen ist in Wien. (Sascha Aumüller, RONDO, 9.2.2018)