Rouen, Frankreich. Es ist das Jahr 1802, am Vorabend der industriellen Revolution. In adeligen Kreisen der nordfranzösischen Gemeinde herrscht Aufruhr. Mit den Fabrikhallen der Kapitalisten kam das Proletariat nach Rouen und man glaubte, die zivilisierte Gemeindehauptstadt drohe vom lohnabhängigen Pöbel überlaufen zu werden. Rouen dürfe nicht Paris werden! Zudem waren die Fabrikhallen ausgerechnet auf jenen Anwesen errichtet worden, die der im Zuge der französischen Revolution verarmte Landadel veräußern musste. Schlimmer noch: Zusammen mit den Sitzen im Gemeinderat wechselten auch Macht und Einfluss die Seiten.

Die Kapitalisten hatte auch in Rouen zur Wachablöse geblasen und mit der alten politischen Ordnung schien auch die natürliche zu wanken. Denn nur wenige Jahre nach feierlicher Eröffnung der ersten Fabrikhallen machten einheimische Naturkundler, die meisten von ihnen Adelige, eine beunruhigende Beobachtung: Bäume hatten im Herbst ihre Blätter früher verloren als gewöhnlich, andere wuchsen im Folgejahr langsamer nach. Für die düpierten Edelmänner war klar: Wenn die Ursache in den mächtigen Schloten der Fabriken zu finden sei, hätten sie ein gewichtiges Argument im Streit mit ihren politischen Widersachern.

Die wenigen im Gemeinderat verbliebenen Aristokraten brachten ebendort Beschwerde ein, auf die mithilfe Pariser Experten eine objektive Antwort gefunden werden sollte: Anhand der neuesten wissenschaftlichen Theorien zu Gasen sollten Chemiker aus der fernen – ungeliebten – Hauptstadt feststellen, ob nicht der "saure Regen" für das "Waldsterben" von Rouen verantwortlich war. Da der französische Staat seine Entscheidungen vermehrt über die universelle Objektivität wissenschaftlicher Theorien und Naturgesetze legitimierte, war zu erwarten, dass man den Urteilen der Pariser Experten folgt, die als glaubwürdige, weil politisch desinteressierte "Repäsentanten der Natur" galten. In der Idealvorstellung der jungen Moderne galt es Wissenschaft von Politik vorsorglich zu trennen, um sie der Entscheidungsfindung wieder zusammenführen zu können.

Der politische Kampf um die wissenschaftliche Wahrheit

In ihren Experimenten in den Pariser Labors kamen die Chemiker zu einem für den Adel enttäuschenden Ergebnis: Die Gase waren harmlos, woraufhin der Gemeinderat von Rouen den Kapitalisten gestattete, ihre Interessen weiterhin unreguliert verfolgen zu dürfen.

Die Chemiker mussten von Industrie und Politik gekauft worden sein, konterte der Adel. Wenn jemandem zu glauben sei, dann freilich den ortskundigen Naturgelehrten. Die Industriellen wiederum erklärten diese für befangen, erkannten sie in ihnen doch ihre gedemütigten Kontrahenten aus dem Gemeinderat.

Darstellung eines chemisches Labors aus dem Jahr 1840.
Foto: Public Domain

Parallel zum politischen entflammte ein wissenschaftlicher Streit um die besonderen Eigenschaften der Gase und deren Effekte auf unterschiedliche Organismen. Der Disput um statistische Analysen von Datenpunkten, Korrelationen und eine mögliche Kausalität stand stellvertretend für politische, ideologische und ethische Grabenkämpfe. Geboren war eine Form der Skepsis, wie wir sie heute als Instrument vor allem in Diskussionen zum Klimawandel kennen. Die politische Opposition vereinnahmt was gemeinhin als eine wissenschaftliche Tugend gilt, und greift die Argumente des Gegners über die Dekonstruktion wissenschaftlicher Erkenntnisse und deren Interpretation an. Am Ende werfen beide Seiten einander Missbrauch wissenschaftlicher Methodik – die Politisierung von Wissenschaft –, vor, und verbergen im gleichen Atemzug ihre eigenen Anliegen und Interessen hinter der Autorität wissenschaftlicher Institutionen. Als würden nicht Menschen, sondern "die Wissenschaft" eine bestimmte Politik verlangen.

Diese Grundhaltung der Moderne – der Rationalismus – fand in Rouen eine frühe Ausprägung. Die Aristokraten wussten sich gegen die übermächtigen Industriellen nicht anders zu helfen, als ihren politischen Streit über die besonderen Eigenschaften von Gasen auszutragen. Ihren ideologischen Höhepunkt erfährt dieser Rationalismus jedoch auf der anderen Seite des Atlantiks. Wie die Heimat der Fake News so ist auch die Heimat der sogenannten Klimaskepsis nicht zufällig die USA. Sie gedeiht am besten in einer politischen Kultur, die gekennzeichnet ist durch (1) ein Zweiparteiensystem, (2) durch die vielen einflussreichen, dem Staat gegenüber skeptischen Lobbygruppen, (3) durch die auf Konfrontation ausgerichtete Grundhaltung des sogenannten Adversarialism – der Streitkultur –, und (4) durch die Überzeugung, mittels der Wissenschaft problemlos ideologische Grenzen überwinden zu können.

Zweifel am Klimawandel = Ablehnung staatlicher Eingriffe

(1) Seit jeher versuchen die US-Demokraten eine von ihnen bevorzugte Umwelt- und Gesundheitspolitik mit wissenschaftlichen Fakten zu untermauern. Seit jeher kontern US-Republikaner mit der Dekonstruktion der Argumentationsgrundlagen ihres politischen Gegners. Alle kennen und können dieses Spiel: Ideologische und parteipolitische Auseinandersetzungen werden unter dem Deckmantel wissenschaftlicher Kontroversen geführt. Ähnliche Debatten dominierten schon das von den Demokraten geforderte Verbot von petrochemischen Pestiziden in den 1970er- und 1980er-Jahren und das Rauchverbot in öffentlichen Orten in den 1990ern. 

(2) In diesen Debatten ist auch die Handschrift der dem Staat skeptisch gegenüberstehenden Lobbygruppen etwa aus der Ölindustrie zu lesen. Die wohlhabenden Unterstützer der Skeptiker dienen letzteren zwar als Geldgeber, doch machen es sich Analysten zu leicht, wenn sie der fossilen Industrie die Schuld an Klimaskepsis geben. Vielmehr machen Lobbyisten sich die in weiten Teilen der amerikanischen Gesellschaft verankerte Ablehnung des von US-Demokraten gewünschten regulierenden Staates zunutze. Steuern werden von einem großen Teil der Bevölkerung als Einschnitt in die Privatsphäre abgelehnt. Wenn nun die politischen Forderungen nach CO2-Steuern, einem Emissionshandel und die moralisierenden Appelle jetsettender Weltbürger zur Verhaltensänderung mit einem wissenschaftlichen Konsens zum Klimawandel begründet werden, dann kann die Antwort eines "Joe Sceptic", einem prototypischen, amerikanischen Bürger aus dem mittleren Westen, nur Zweifel an diesem Konsens sein.

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Ein Charakter in "South Park" als Parodie des Klimastreits.

Die Wahrheit als Tochter des öffentlichen Streits

(3) Darüber hinaus sind US-Amerikaner der Meinung, dass die Wahrheit eine Tochter des Streits zweier Parteien ist, in dem es nur einen Gewinner geben kann. Die Streitkultur dieses Adversarialism bestimmt auch die Überprüfung wissenschaftlicher Erkenntnisse: hier gilt Konsens als politisches Prinzip, das in der wissenschaftlichen Wahrheitsfindung nichts verloren hätte. Dass Wissenschaft auf eine bestimmte Art und Weise immer politisch ist, da es sich bei ihr um eine von Menschen gestaltete Institution handelt, wird in den christlich-puritanischen USA ausgeklammert: Ihr Leitspruch könnte genauso One Nation Under Science statt One Nation Under God heißen.

So gibt es vor allem in Sicherheitsfragen die Tradition eines Blue Teams, das im Fall der Fälle die Erkenntnisse des Red Teams prüft bzw. falsifiziert, und umgekehrt. Rouen ist ein frühes Beispiel dieses Prinzips, das sich in Europa aufgrund der sich etablierenden konsensualen politischen Systeme aber nicht so stark wie in den USA entwickeln konnte. Dort spricht man mittlerweile von Climate Blue Teams, wie sie kürzlich erst der hochrangige US-Physiker Steven Koonin in einem Vortrag in Wien forderte. Auch Koonin ist davon überzeugt, dass (4) im Klimastreit die "pure" Wissenschaft die tiefsten ideologischen Gräben überwinden könne.

Ausgetragen werden diese Konflikte öffentlich. Denn anders als die "alten Europäer", halten die Amerikaner wenig von Entscheidungen, die im Vertrauen hinter verschlossenen Türen getroffen werden, ein beispielsweise in Großbritannien verbreitetes Konzept – Vertrauen bedingt eine gewisse Geheimhaltung. In den USA hingegen passiert Vertrauensbildung gerne auch im Fernsehen, mit dem für Europäer empfundenen Nachteil, dass Wissenschafter regelmäßig in Kongress und Senat vor laufender Kamera Rede und Antwort stehen müssen. Sie werden von ihnen feindlich gesinnten Politikern vorgeladen – sprichwörtlich "gegrillt" –, wobei Demokraten den Republikanern in der Klimadebatte in Gehässigkeit um nichts nachstehen.

US-Präsident Trumps Klimaskeptik ist ein Produkt der politischen Kultur Amerikas im 21. Jahrhundert.
Foto: AP/Evan Vucci

Über das Internet und anglophone Medien kam der US-amerikanische Diskurs zum Klimawandel nach Europa und schließlich auch nach Österreich, wo die FPÖ als Oppositionspartei einst ihre Netze nach Protestwählern auswarf. Generell ist die Klimaskepsis als das Leugnen bestimmter wissenschaftlicher Erkenntnisse hierzulande aber rar, weil politische Entscheidungen seltener über wissenschaftliche Kontroversen ausgefochten werden als in den USA. 

Die Rolle der Klimawissenschaft überdenken

Wir fassen zusammen: Common ground – gemeinsame Grundlage – für den US-Klimastreit bildet eine orthodoxe Auslegung des modernen Rationalismus – der Glaube an eine wissenschaftliche Wahrheit, die 1:1 in der Politik zur Anwendung kommt. Wären sich die Kontrahenten darüber nicht einig, dann gäbe es keinen Disput um den Wahrheitsgehalt der Klimawissenschaft, um statistische Analysen von Datenpunkten, Korrelationen und die in der Treibhausgastheorie zum Konsens gebrachte Kausalität. Andersrum: Je stärker die Kontrahenten sich in der Legitimation ihrer Forderungen auf die Autorität der Wissenschaft berufen, desto härter wird um die wissenschaftliche Wahrheit, die bekanntlich nie endgültig ist, gestritten.

Das Problem daran: Nur selten, wie etwa in nationaler Gesundheitspolitik, verschieben sich im wissenschaftlich-politischen Streit tatsächlich die Standpunkte, Weltanschauungen oder Überzeugungen. So konnte in der Frage des Nichtraucherschutzes eine politisch akzeptable Lösung gefunden werden, wobei die Wissenschaft in der Entscheidungsfindung nicht unbedingt zentral war. Wenn aber Steuern von einem großen Teil der Bevölkerung als bevormundender staatlicher Eingriff abgelehnt werden, dann werden diese Libertarians weder mit wissenschaftlichen Erkenntnissen, noch mit abstrakten Bedrohungsszenarien von der Notwendigkeit einer CO2-Steuer zu überzeugen sein. Das ist nur einer von vielen Gründen, warum wir über den Klimawandel streiten, wie der britische Geograf Mike Hulme in "Why we disagree about Climate Change" schlüssig argumentiert. Als besonderen Grund würde ich die den Lesern dieses Blogs bekannte "CO2-Fixierung" nennen. Wie ich im Beitrag "Klimaschützer in der CO2-Falle" argumentiere, spricht eine über das CO2 entortete, globalisierte Darstellung von Klima nationalkonservative Bevölkerungsschichten kaum an. Auch hilft es wenig, auf die wissenschaftliche Richtigkeit dieser zu beharren.

Klimaskepsis verstehen

In diesem Beitrag ging es um Klimaskepsis als Leugnung des menschlichen Einflusses an klimatischen Veränderungen. Dieser US-amerikanische Diskurs zum Klimawandel entspringt nicht nur einer gezielten, opportunistischen Politisierung von Klimawissenschaft durch mächtige Akteure aus der Ölindustrie, ihren US-Republikanischen Handlangern und einigen exzentrischen Wissenschaftern. Der Klimastreit ist das Produkt eines polarisierenden Systems und einer politischen Kultur, die Demokraten und Republikaner spätestens seit Ronald Reagan immer weiter auseinanderdriften ließ und demokratische Auseinandersetzung im Sinne einer Deliberation immer mühsamer werden lässt. "Skeptiker" stehen "Alarmisten" gegenüber. Für eine Debatte essentielle Zwischentöne und Graustufen werden von beiden Seiten zu oft ignoriert. Politische Argumente werden stets mit wissenschaftlichen flankiert. Wir sollten uns daher nicht wundern, dass Gegner einer Politik, die behauptet, dass nicht Menschen, sondern "die Wissenschaft" bestimmte Maßnahmen und Ziele verlange, die Klimawissenschaften dekonstruieren und ihre Erkenntnisse anzweifeln. (Mathis Hampel, 26.2.2018)

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