Höheninformationen aus Stereokameras können in dreidimensionalen Anlagen, wie an diesem Tribünenausgang, zur Bestimmung der Trajektorien verwendet werden.

Foto: Forschungszentrum Jülich

BaSiGo-Probanden an einer 120-Kreuzung: mit Hilfe von Markern auf den Mützen können die individuellen Trajektorien ermittelt werden.

Foto: Forschungszentrum Jülich

Jeddah Airport zu Beginn der Hadj 2013: weiß gewandete Pilger, Geschrei, Hitze überall. Und ich mittendrin – eingekeilt, in der Masse treibend, verzweifelt versuchend in Richtung Sicherheits- und Passkontrolle zu kommen.

Die Dynamik großen Menschenmassen übt seit jeher eine Faszination auf Menschen und Wissenschaftler verschiedenster Disziplinen aus. Seit Jahren versuchen Physiker, Ingenieure, Informatiker, Psychologen und in letzter Zeit auch vermehrt Mathematiker, die komplexen Interaktionen von Fußgängern und deren Auswirkung auf die Dynamik der gesamten Gruppe zu verstehen. Die dabei gewonnen wissenschaftlichen Erkenntnisse liefern wichtige Informationen, welche zum Beispiel in der Entwicklung von Sicherheitsstandards für öffentliche Gebäude und Veranstaltungen einfließen oder die Basis von Computersimulationen bilden.

Im Mittelpunkt der Forschung steht die Bewegung des Einzelnen und Fragen wie etwa: Welche Faktoren beeinflussen die individuelle Dynamik, welche Kenngrößen beziehungsweise Zusammenhänge kann man in Experimenten messen und welche Modelle reproduzieren das beobachtete Verhalten korrekt?

Soziale und kulturelle Faktoren

Die Dynamik einzelner Fußgänger wird durch Trajektorien beschrieben. Diese werden entweder in Experimenten bestimmt (etwa durch die Auswertung von Sensoren) oder aus Videomaterial extrahiert. Mit Hilfe der Trajektorien kann dann der Zusammenhang zwischen der gemessenen Personendichte und der durchschnittlichen Geschwindigkeit ermittelt werden – das sogenannte Fundamentale Diagramm. Dieses Diagramm bestätigt die allgemeine Weisheit – je mehr Leute, desto langsamer geht es voran.

Einen universell gültigen Zusammenhang gibt es allerdings nicht – soziale und kulturelle Faktoren als auch die spezifische Situation haben einen maßgeblichen Einfluss. Im Falle eines langen Korridors nimmt die durchschnittliche Geschwindigkeit mit der Dichte ab, wenn sich die Personen in eine vorgegebene Richtung, zum Beispiel von links nach rechts, bewegen. Sind allerdings zwei Gruppen unterwegs – eine von recht nach links und die andere von links nach rechts – bilden sich Richtungsbahnen und die durchschnittliche Geschwindigkeit ist geringer. Auch bewegen sich Menschen im asiatischen Raum bei höheren Dichten schneller als zum Beispiel Europäer.

Mathematische Modelle

Zwar gibt es einen generellen Konsens über die Form des Fundamentaldiagramms, jedoch variiert die Form aufgrund verschiedener Messmethoden erheblich. Außerdem ist es aufgrund von Sicherheitsstandards nicht so einfach möglich, Experimente für Dichten jenseits von sechs Menschen pro Quadratmeter durchzuführen. Hierfür muss oft auf Videomaterial zurückgegriffen werden – wie etwa die Aufzeichnungen, welche bei der jährlichen Hadj in Mekka gemacht werden. Hierbei wurden Dichten von bis zu zehn Menschen pro Quadratmeter gemessen.

Wo kommt aber die Mathematik ins Spiel? Zum Beispiel in der Entwicklung mathematischer Modelle. Diese beschreiben entweder das Verhalten des Einzelnen oder der gesamten Menge. Die Bewegung eines Fußgängers kann etwa durch die Newton’schen Bewegungsgleichungen modelliert werden. Hierbei wird angenommen, dass sich die Person mit einer spezifischen Geschwindigkeit auf ein Ziel zu bewegt und diese im Verlauf der Bewegung an die lokalen Begebenheiten anpasst. So können etwa potentielle Kollisionen mit anderen Fußgängern oder Wänden aber auch beobachtete Staus die Bewegungsrichtung und -geschwindigkeit beeinflussen.

Kollisionen vermeiden

Für Mathematiker ist allerdings das Gesamtverhalten der Menge viel interessanter – denn nur in diesen, sogenannten makroskopischen Modellen kann man zeigen also beweisen, dass gewisse Dynamiken wirklich auftreten. Stellen Sie sich vor, Sie beobachten eine sehr große Menschenmenge von oben und zoomen langsam heraus. Am Anfang sehen Sie noch die einzelnen Personen, jedoch mit der Entfernung verschwimmen die Einzelnen und Sie können nur mehr deren Verteilung wahrnehmen.

Diese Verteilung entspricht der Fußgängerdichte und das Verhalten dieser Dichte kann durch sogenannte partielle Differentialgleichungen beschrieben werden. Um solche Gleichungen herzuleiten, müssen oft vereinfachende Annahmen gemacht werden – etwa dass keine einzelnen Individuen mehr unterschieden werden können, ihre Anzahl sehr groß ist und die Interaktionen auf das absolut Notwendigste beschränkt sind. Dies ist natürlich nicht wirklich realistisch, aber faszinierenderweise reproduzieren diese minimalistischen Modelle gewisse Dynamiken, welche in Experimenten beobachtet wurden, erstaunlich gut. So können etwa einfache Interaktionen – wie etwa die Vermeidung von Kollisionen durch zur Seite treten – schon zur Bildung von Richtungsbahnen führen. Eine Dynamik, welche man auch für die Lösungen des dazu gehörigen Modells beweisen kann.

In der Menge den Weg bahnen

Mathematische Methoden können auch zur Validierung und Kalibrierung des Fundamentalen Diagramms verwendet werden. Dieses wird in mathematischen Modellen verwendet, welche die Basis von Computersimulationen bilden. Hierbei ist es wichtig, Konfidenzintervalle für wichtige Kenngrößen in Abhängigkeit der gemachten Messfehler zu bestimmen. Die systematische Weiterentwicklung von mathematischen Methoden zur Analyse von Daten und der entsprechenden Modelle ist daher auch in Zukunft von großer Bedeutung.

In Jeddah haben mir all diese wissenschaftlichen Erkenntnisse herzlich wenig geholfen. Letztendlich nahmen mich zwei kräftige Europäer in die Mitte und bahnten sich den Weg durch die Menge in Richtung Sicherheitskontrolle und der ersehnten Maschine nach Wien. Und obwohl dieses Erlebnis beängstigend war, es fasziniert mich bis heute. (Marie-Therese Wolfram, 28.2.2018)