Herr Bergoglio (Zweiter von rechts) in seiner Rolle als Papst Franziskus.

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Andrea Tornielli (Mitte) gilt als Papst-Intimus.

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Am 13. März 2013 ist der Argentinier Jorge Maria Bergoglio zum Papst der katholischen Kirche gewählt worden. Der italienische Vatikankenner Andrea Tornielli findet, dass die Kritik an Franziskus normal sei – und oft auch am Hauptanliegen des Papstes vorbeiziele.

STANDARD: Zu Beginn seines Pontifikats ist Franziskus auf einer Welle der Sympathie und der Begeisterung geritten; die Wahl des ersten Papstes aus Südamerika hatte große Hoffnungen und Erwartungen geweckt. Heute, fünf Jahre danach, macht sich Ernüchterung breit: Die von Franziskus in Aussicht gestellten Reformen lassen zum größten Teil noch auf sich warten. Ist das Pontifikat an einem toten Punkt angekommen?

Tornielli: Die Euphorie hat sicher etwas nachgelassen. Aber das ist ein normales Phänomen. Bei jedem Papst stellt sich zunächst eine Art Flitterwochenstimmung unter den Gläubigen ein. Diese hält unterschiedlich lange an, aber irgendwann hört sie auf. Mir scheint es aber, dass es Franziskus bis heute gelingt, Menschen anzusprechen, die vielleicht mit der katholischen Kirche wenig am Hut haben. Das belegt, dass der Papst und seine Idee einer "armen Kirche für die Armen" bis heute wenig von ihrer Strahlkraft eingebüßt haben.

STANDARD: Bei der Chile-Reise blieben die Zuschauermassen zuletzt weit unter den Erwartungen, und die Bemerkung des Papstes, wonach es gegen den in einen Missbrauchsskandal verwickelten chilenischen Bischof Juan Barros "keine Beweise" gebe, hat auch unter engen Vertrauten Irritation ausgelöst.

Tornielli: In Chile befindet sich die Kirche in einer tiefen Glaubwürdigkeitskrise, weil sie während der Pinochet-Diktatur auf der Seite des Machthabers gestanden war. Man wusste von Anfang an, dass es eine schwierige Reise werden würde. Der Papst hat sicher einen Fehler gemacht, als er von "Beweisen" sprach, und er hat sich dafür ja auch sofort entschuldigt. Insgesamt hat Franziskus auf der Chile-Reise aber mehrere hervorragende Reden gehalten, etwa über die Indios, über Amazonien und über die Priester. Wegen der – verständlichen – Fokussierung der Medien auf den Fall Barros ist das aber untergegangen.

STANDARD: Viel Kritik muss sich der Papst von den Traditionalisten anhören, insbesondere wegen seines nachsynodalen Schreibens "Amoris laetitia". In diesem Dokument lockert Franziskus das Verbot des Kommunionsempfangs für wiederverheiratete Geschiedene.

Tornielli: Alle Päpste sind kritisiert worden, das hat Tradition. In diesem Jahr wird die sogenannte "Pillen-Enzyklika" von Paul VI. 50 Jahre alt. Das darin enthaltene Verbot der Empfängnisverhütung war damals heftig kritisiert worden, auch von Kardinälen und Bischöfen. Kritik am Papst ist nicht neu – neu ist dagegen die Präsenz der sozialen Medien, die es noch nicht einmal zur Zeit von Joseph Ratzinger gegeben hatte. Heute erfolgt die Kritik am Papst auch über Blogs und Facebook-Gruppen und andere Internetkanäle. Das lässt die Verbreitung und die Kraft der Kritik sehr viel größer erscheinen, als sie in Wirklichkeit ist.

STANDARD: "Amoris laetitia" ist auch von namhaften Kardinälen kritisiert worden, etwa vom Präfekten der Glaubenskongregation, dem deutschen Kardinal Gerhard Ludwig Müller, den der Papst danach aus seinem Amt entfernte.

Tornielli: Natürlich gibt es theologische Kritik an "Amoris laetitia". Dennoch glaube ich, dass das wahre Problem ein anderes ist. Ich kann mir nicht vorstellen, dass den Kritikern die Kommunion für wiederverheiratete Geschiedene so wichtig ist. Was die Kritiker an diesem Papst viel mehr ärgert, sind seine Positionen zu Krieg, Umwelt, Flüchtlingen, Finanzen, Wirtschaft. Mit diesen Positionen eckt der Papst, der zu einem globalen Leader geworden ist, natürlich bei bestimmten Kreisen an.

STANDARD: Ihrer Meinung nach ist die Kritik an "Amoris laetitia" also nur vorgeschoben?

Tornielli: Hinter der Kritik verstecken sich oft ganz andere Themen. Das wahre Interesse der Kritiker gilt den sozialen Anliegen des Papstes, nicht den Lehrfragen: Den Mächtigen und den Finanzmärkten ist die Kommunion für wiederverheiratete Geschiedene herzlich egal. Wenn aber der Papst "strukturelle Veränderungen" in der Wirtschaft fordert und wenn er erklärt, dass hinter den Kriegen der Waffenhandel steckt und dass zwischen Krieg und Armut ein innerer Zusammenhang bestehe, dann provoziert das.

STANDARD: Haben die Kardinäle in der Sixtinischen Kapelle vor fünf Jahren einen Kommunisten gewählt, wie in den USA mitunter behauptet wird?

Tornielli: Wer den Papst einen Kommunisten nennt, der kennt die Soziallehre der Kirche nicht. Dass "die armen Menschen der Leib Christi sind", sagten schon die Kirchenväter. 1931 hatte Papst Pius XI. – ein konservativer Italiener wie bis dahin fast alle Päpste – eine Enzyklika zur Weltwirtschaftskrise und zum Börsencrash von 1929 geschrieben, in der von der "internationalen Macht und dem Imperialismus des Geldes" die Rede ist. Das waren ebenfalls schon sehr starke Formulierungen. Papst Franziskus erinnert ganz einfach an Worte und Doktrinen, die lange vor ihm formuliert worden sind, die aber in der katholischen Kirche vergessen wurden.

STANDARD: Liest man hingegen die Umweltenzyklika "Laudato sii", könnte man denken, der Papst sei ein Grüner ...

Tornielli: Dem Papst geht es um menschliche Ökologie – diese unterscheidet sich stark von der grünen Ideologie. Die Grünen sagen: Der Mensch ist das Krebsgeschwür dieses Planeten, darum wäre es wichtig, dass man weniger Kinder hat. Der Papst sagt genau das Gegenteil. Im Amazonas kritisierte er, dass im Namen des Umweltschutzes Indios aus den Regenwäldern vertrieben würden, weil sie den Regenwald nutzten. In "Laudato sii" betont der Papst auch, dass es absurd sei, dass sich Naturschützer für die Robbenbabys einsetzen und nichts zu den Millionen Kindern sagen, die abgetrieben werden.

STANDARD: Sprechen wir über die Reformen – und beginnen wir mit der Vatikanbank IOR. Warum ist es so schwierig, diesen Sumpf trockenzulegen?

Tornielli: Es ist derart schwierig, dass der Papst am Anfang sogar erwogen hat, die Bank zu schließen. Das IOR ist jahrelang im völligen Gegensatz zum Glauben und zum Evangelium gestanden. Nun scheint die Bank aber auf einem guten Weg zu sein, das heißt, dass das IOR und das Finanzwesen des Vatikans inzwischen so weit reformiert sind, dass sich gewisse Skandale nicht mehr wiederholen könnten.

STANDARD: Gerade berauschend ist die Reformbilanz von Franziskus wirklich nicht ...

Tornielli: Ich verstehe, wenn der eine oder andere über das Tempo enttäuscht ist. Die eigentliche, die wahre Reform von Papst Franziskus ist aber eine andere, die er mit seinem Beispiel vorlebt. Franziskus will eine Reform des Herzens, nicht der Strukturen. Der Papst verlangt eine pastorale Umkehr: Die Kirche soll nahe an den Menschen sein, sich um diejenigen kümmern, die leiden – all das ist ihm viel wichtiger.

STANDARD: Die Kirche als Feldlazarett, wie es Franziskus auch schon genannt hat ...

Tornielli: Genau. Das ist die wahre Reform. Die größte Veränderung unter Franziskus ist die Zuwendung der Kirche zu den Ärmsten, zu denen, die am gesellschaftlichen Rand leben.

STANDARD: Auch das gefällt freilich nicht allen. Einige Vatikankenner reden bereits von einem heimlichen Aufstand in der Kurie. Ist es einsam geworden um den Papst im Kirchenstaat?

Tornielli: Bezüglich der strukturellen Reformen sicher nicht, diese werden von der großen Mehrheit der Kurie und der Kardinalskommission mitgetragen. Bei der von Franziskus geforderten pastoralen Umkehr und auch bei der der Missbrauchsbekämpfung muss man abwarten, ob die Schriften und Reformen des Papsts auch zu einem Mentalitätswechsel führen. Die Mentalität kann man nicht per Gesetz ändern. Aber auch hier muss man daran erinnern: Alle Päpste hatten mächtige Gegner in der Kurie, auch Benedikt XVI. und Johannes Paul II. in der ersten Phase. Außerdem ist Kritik ja nicht grundsätzlich negativ: Wenn einzelne Entscheide infrage gestellt werden, ist das normale Dialektik, die auch ihr Gutes hat.

STANDARD: Viele Kritiker werfen Franziskus vor, er halte letztlich an den alten und aus ihrer Sicht überkommenen Positionen fest – etwa bei Homo-Ehen und der Priesterweihe für Frauen.

Tornielli: In dieser Hinsicht ist der Papst sehr klar. Er legt gegenüber Homosexuellen eine große Offenheit an den Tag, aber das heißt noch lange nicht, dass die Kirche plötzlich homosexuelle Ehen absegnet. Und wenn der Papst betont, dass die Rolle der Frauen in der Kirche aufgewertet werden soll, dann bedeutet das nicht, dass sie Priesterinnen werden sollen. Wer diese Positionen nicht akzeptieren kann, hat nicht viel begriffen von der katholischen Kirche und ihrem Katechismus.

STANDARD: Und so wird sie weiterhin unter Priestermangel leiden und Frauen vor den Kopf stoßen ...

Tornielli: Selbst wenn man Reformen bei der Priesterweihe und der Sexualmoral für richtig halten würde: Die Probleme wären damit auch nicht gelöst. Das sieht man bei den Kirchen, die solche Reformen durchgeführt haben: Es ist nicht so, dass diese plötzlich wieder mehr Gläubige dazugewonnen hätten. Das sieht man zum Beispiel bei den Anglikanern: Dass die anglikanische Kirche Priesterinnen kennt, hat nicht dazu geführt, dass wieder mehr Gläubige in die Kirche kamen.

STANDARD: Einige Gegner werfen Franziskus vor, populistisch zu sein.

Tornielli: Der Vorwurf hat mit der kirchlichen Tradition in seiner Heimat zu tun. In Südamerika ist die "Theologie des Volkes" verbreitet, die im Übrigen auch im Zweiten Vatikanischen Konzil aufgenommen wurde: Sie betont die Wichtigkeit des Volkes Gottes. Franziskus kämpft gegen den Klerikalismus, in dem sich die Priester wie eine geschlossene Kaste aufführen. Er sagt: Das Wichtigste für die Kirche sind nicht die Kleriker, sondern die einfachen Getauften. Er insistiert sehr auf dem Konzept des Volkes Gottes. Für mich ist das kein Populismus.

STANDARD: Was ist die wichtigste Herausforderung des Papstes in den nächsten Jahren?

Tornielli: Das neue Kirchenverständnis von Franziskus muss an die Basis transportiert werden, also an die Bischöfe, die Priester und vor allem die Gläubigen. Die pastorale Umkehr, die der Papst in der Enzyklika "Evangelii gaudium" fordert, bedeutet, das Gesicht der Barmherzigkeit zu zeigen. Das ist eine Veränderung, die man nicht mit Reformen, Gesetzen und Enzykliken alleine erreichen kann. "Evangelii gaudium" muss an der Basis gelebt werden: Das ist und bleibt die größte Herausforderung für den Papst, obwohl seit der Publikation der Enzyklika bereits viereinhalb Jahre vergangen sind.

STANDARD: Eine spekulative Frage: Wird auch Franziskus irgendwann zurücktreten?

Tornielli: Er hat ja selber gesagt: Benedikt hat eine Tür geöffnet, die offen bleibt. Ich glaube, dass auch Franziskus zurücktreten würde, wenn er zu dem Schluss käme, dass er seinem Amt physisch oder psychisch nicht mehr gewachsen wäre. Aber ich glaube persönlich nicht, dass er im Moment an diese Möglichkeit denkt. Er hat zwar selber davon gesprochen, dass sein Pontifikat ein kurzes werden könnte, zwei oder drei oder vier Jahre. Doch das war eher eine Prognose, nicht ein Beschluss. Und jetzt ist er ja schon fünf Jahre Papst. Auf jeden Fall glaube ich nicht, dass Franziskus zurücktreten wird, solange Benedikt noch lebt. Die Kirche hatte schon Mühe, sich an eine Situation mit zwei Päpsten zu gewöhnen – drei Päpste wären einfach zu viel. (Dominik Straub aus Rom, 11.3.2018)