Über die Sexualität tritt die Dichotomie Heilige versus Hure noch immer regelmäßig in Erscheinung. Zu prüde oder zu "nuttig": Für Frauen bedeutet ein aktives Sexleben auch einen schwierigen Balanceakt.

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Sandra Konrad, "Das beherrschte Geschlecht. Warum sie will, was er will". € 24,70 / 384 Seiten. Piper-Verlag, 2017

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Sandra Konrad sprach mit über 70 Frauen in stundenlangen Gesprächen über ihre sexuelle Selbstbestimmung.

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Die Geschichte der Unterdrückung der weiblichen Sexualität ist lange und voll von brutaler Disziplinierung, strengen Keuschheitsgeboten und kruden Sexualtheorien, die die weibliche Lust stigmatisierten. Heute sprechen Frauen gerne von ihrer selbstbestimmten Sexualität und dass sie nur tun würden, worauf sie Lust hätten. Sandra Konrad untersucht in ihrem kürzlich erschienenen Buch "Das beherrschte Geschlecht. Warum sie will, was er will", wie es mit der sexuellen Freiheit von Frauen tatsächlich steht und warum sich zweitausend Jahre Unterdrückung nicht einfach wegwischen lassen, und stellt die These auf: Männliche Herrschaft ist in weibliche Selbstbeherrschung übergegangen.

STANDARD: Sie schreiben, dass Frauen heute zwar alles dürfen, dafür aber auch alles mitmachen müssen. Ein ziemlich schlechter Deal, oder?

Konrad: Ja, heute gibt es die Anforderung, sexuell aktiv sein zu müssen, und damit werden wieder neue Normen aufgestellt, Normen, die es Frauen wieder erschweren, ihre eigenen Bedürfnisse herauszufinden. Wir sprechen heute immer von der sexuellen Befreiung, doch wir vergessen, dass mit der sexuellen Revolution neue Zwänge und Normen kamen. Etwa die schleichende Sexualisierung von Frauen, seien es Playboy-Bunnys, die "Bild"-Girls oder die Boxenluder usw. Wir sind heute an einem Punkt, an dem Frauen ihre eigene Sexualisierung und Unterwerfung als Gipfel der Emanzipation verkauft wird. Das müssen wir hinterfragen: Ist das jetzt der ideale Zustand? Ist es das, was wir unter sexueller Selbstbestimmung verstehen wollen?

STANDARD: Sie haben mit über 70 Frauen zwischen 18 und 45 Jahren über sexuelle Selbstbestimmung gesprochen. Welche Unterschiede gab es zwischen den jüngsten und den ältesten Frauen?

Konrad: Jüngere sprechen offener über ihre sexuellen Erfahrungen, wobei die Lust des Partners oft vor der eigenen steht. Sex ohne Intimität, die sogenannte Freundschaft-plus-Beziehung, ist bei jüngeren Frauen weiter verbreitet. Bei dieser neuen Form der Sexualität soll die "neue Frau" so sein wie der "alte Mann": Gefühle sollen von Sex fein säuberlich getrennt werden. Ältere Frauen vertreten ihre Wünsche und Grenzen selbstbewusster, aber wenn sie sich neu verlieben, dann ist es bei ihnen wie bei den Jungen, und sie unterwerfen sich erst einmal der Norm.

STANDARD: Und was beschäftigt alle Frauengenerationen?

Konrad: Dass der Körper als ungeliebte Baustelle verstanden wird. Er soll mit Diäten im Griff gehalten werden, bis hin zu schmerzhaften Schönheitsoperationen.

STANDARD: Sie konnten in den Gesprächen auch einen ausgeprägten sexuellen Leistungswillen bei den Frauen beobachten. Verknüpfen sich hier alte patriarchale Muster mit einem eher neuen Leistungsdenken, das auch in anderen Bereichen unserer Gesellschaft herrscht?

Konrad: Ja, der sexuelle Leistungsdruck, der bisher eher Männer geplagt hat, ist jetzt auch bei Frauen angekommen. Viele der jüngeren Frauen haben mir erzählt, wie sie sich akribisch auf Blowjobs vorbereiten und Pornos zu Weiterbildungszwecken schauen, weil sie gut bewertet werden wollen. Gleichzeitig lehnen sie oft die eigene orale Befriedigung ab, weil sie sich für das Aussehen ihres Genitals oder ihren Geruch schämen. Das Prädikat "gut im Bett" ist Frauen wichtiger, als sich gut im Bett zu fühlen.

STANDARD: Warum unterstützen Frauen noch immer einen Umgang mit Sexualität, unter dem sie selbst leiden?

Konrad: Frauen mussten sich in den letzten Jahrhunderten anpassen, um zu überleben, und diese Anpassungsfähigkeit ist mittlerweile in ihre emotionale DNA übergegangen. Außerdem wachsen Frauen heute noch immer in einer Welt auf, in der sie eher gefallen als bestimmen wollen und in der der männliche Blick immer noch wichtiger ist als der weibliche Wille. Deshalb verhalten sich Frauen oft so, dass Männer sie attraktiv finden, und schwächen sich damit leider selbst. Wenn Frauen sich nämlich wehren und gegen gängige gesellschaftliche Normen aufbegehren, werden sie oft als sexuell unattraktiv wahrgenommen. Das führt dazu, dass Frauen sich in unverbindlichen sexuellen Kontakten eher den Wünschen des Mannes unterordnen. Um aber mit ihrem selbstbewussten, selbstbestimmten Selbstbild im Einklang bleiben zu können, müssen sie die eigene Rolle umdeuten im Sinne von: Ich wollte das, was er will.

STANDARD: Also eine Entsolidarisierung mit sich selbst und anderen Frauen?

Konrad: Die mangelnde Solidarität kann man damit erklären, dass Frausein einfach lange keinen Wert hatte, weil Frauen als die minderwertige Abweichung vom männlichen Geschlecht galten. Da hat es immer viel mehr gebracht, sich mit Männern zu verbünden als mit dem eigenen Geschlecht. Das ist eine unbewusste Koalition mit der männlichen Macht, und die zeigt sich heute auch noch darin, dass Frauen typisch patriarchale Argumente verinnerlicht haben und sich eher mit dem männlichen als dem weiblichen Geschlecht identifizieren. Das ist oft nicht bewusst, es prägt aber trotzdem das eigene Körperbild, die vermeintlich eigenen Wünsche und nicht zuletzt auch das eigene sexuelle Verhalten.

STANDARD: Die Geschichte der sexuellen Unterdrückung von Frauen ist dicht und erschütternd, weibliche Lust wurde pathologisiert, während Männer ihre Sexualität ohne Rücksicht auf Verluste ausleben konnten – selbst Vergewaltigung galt die längste Zeit als Kavaliersdelikt. Wodurch wird diese Geschichte ständig ins Hier und Jetzt geholt?

Konrad: Durch Scham und Beschämung, ganz klar. Scham sitzt Frauen wirklich in den Knochen, und Beschämung ist die stärkste Waffe patriarchaler Gesellschaften, um Frauen zu kontrollieren. Wenn sie sich nicht an die Regeln halten, sind sie entweder zu nuttig oder zu verklemmt. Viele Frauen schämen sich auch für ihren Körper, sie finden ihn hässlich oder haben keinen Bezug zu ihrer Lust. Das ist nicht verwunderlich, wenn wir uns die Geschichte anschauen. Die jahrhundertelange Unterdrückung von Frauen zeigt sich heute noch in einem entfremdeten Körpergefühl: Viele Frauen hassen ihren Körper, viele leiden unter Ess-, Libido- oder Orgasmusstörungen. Wenn die Beschämung nicht ausreicht, wird Frauen Gewalt angedroht. Im Haus, auf der Straße und im Internet. Jede zweite Frau hat sexuelle Belästigung erfahren und jede siebte Frau sexualisierte Gewalt. Laut aktuellen Schätzungen der Uno haben 73 Prozent aller Frauen schon mal Cybergewalt erfahren. Die Konsequenz ist Angst und Schweigen. Es schweigen nicht nur die Opfer, sondern die ganze Gesellschaft.

STANDARD: Seit #MeToo ist die Debatte um sexuelle Gewalt aber doch größer geworden. Aber wie sexuelle Selbstbestimmung für Frauen aussehen könnte, ist kein so großes Thema. Wie schätzen Sie den aktuellen Diskurs ein?

Konrad: Die #MeToo-Bewegung hat verdeutlicht, dass das keine Einzelfälle sind, sondern dass wir es mit struktureller Macht und eklatantem Machtmissbrauch zu tun haben – nicht nur in Hollywood, sondern auf der ganzen Welt. Ich finde an der Debatte aber frappierend, dass vor allem über die sexuelle Freiheit des Mannes gesprochen wird. Ob die jetzt eingeschränkt wird, wenn es ihm nicht mehr erlaubt sein soll, zu belästigen oder auf irgendeine Weise zu flirten, die eine Frau unangenehm und grenzüberschreitend findet. Manche Männer nervt es kolossal, wenn Frauen sich das Recht herausnehmen, Nein zu sagen. Das ist das große Tabu des 21. Jahrhunderts: dass man als Frau Grenzen setzt.

STANDARD: Sie schreiben in Ihrem Buch, dass die von Frauen behauptete sexuelle Freiheit sich letztlich oft als eine sehr beschränkte Vorstellung von Selbstbestimmung entpuppte. Menschen freiwillige Handlungen abzusprechen, ist aber auch sehr heikel, im individuellen wie auch bei breiteren Debatten wie etwa darüber, ob Prostitution jemals freiwillig sein kann.

Konrad: Ja, das ist schwierig. Einerseits darf man auf keinen Fall übergriffig werden, andererseits grenzt eine liberale Haltung oft an Ignoranz und Empathielosigkeit. In der Prostitution berufen wir uns gerne auf die Freiwilligkeit der Prostituierten und verdrängen, dass die signifikante Mehrheit Zwangs-, Armuts- und Drogenprostitution ist. Wir verdrängen, dass Frauen in dieser Tätigkeit Gewalt erfahren, retraumatisiert werden und oft in einem ausbeuterischen, kriminellen System stecken. Es gibt hier den psychologischen Prozess der Spaltung: Wenn wir etwas nicht ertragen können, müssen wir einen Teil der Realität abspalten. Das machen Betroffene, das macht aber auch die Gesellschaft. In den Gesprächen mit jungen Frauen habe ich ständig gehört: "Ich bin total selbstbestimmt und cool und entscheide alles selber!" – und dann hat jede einzelne im Laufe dieser stundenlangen Gespräche von grenzüberschreitenden Geschichten erzählt und dass sie Dinge mitgemacht haben, die sie eigentlich gar nicht wollten.

STANDARD: Für viele Frauen scheint der Weg zu einer selbstbestimmten Sexualität noch sehr weit entfernt. Wo liegen echte Chancen, die Geschichte der sexuellen Unterdrückung zu überwinden?

Konrad: #MeToo könnte ein historischer Moment und ein echter Wendepunkt sein. Es zeigt sich eine noch nie dagewesen Solidarität von Frauen, aber auch von Männern, die verstehen, dass es eklatante Missstände gibt und dass wir diese gemeinsam mit aller Kraft bekämpfen müssen. Ich glaube übrigens, dass die Selbstbestimmung der Frau gar nicht in so weiter Ferne liegt, wenn Frauen sich endlich ihrer Kraft und Macht bewusst werden und sie auch nutzen. Wenn Frauen anfangen, an den öffentlichen Drehbüchern und auch an den intimen Drehbüchern mitzuschreiben. Wenn sie Normen und Regeln nicht einfach so hinnehmen, sondern kritisch hinterfragen und individuelle Entscheidungen treffen. Dafür braucht es viel Mut, und es braucht auch weiterhin Solidarität, Empathie und Respekt, und all das braucht es geschlechterübergreifend. (Beate Hausbichler, 18.3.2018)