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Vom Naserümpfen bis hin zum Brechreiz – Ekel ist ein starkes Gefühl. Die Reaktionen darauf sind aber in erster Linie erlerntes Verhalten.

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Ein Mensch, der sich vor überhaupt nichts ekelt, ist krank. Denn der Abscheu – der Duden unterscheidet hier zwischen physischem und moralischem – "gehört zum menschlichen Code", wie es der Ethnologe Timo Heimerdinger von der Universität Innsbruck ausdrückt. Zwar kennt jeder das Gefühl, sich zu ekeln, oder verbindet mit dem Wort gewisse negative Assoziationen, und doch ist der Ekel an sich als Gefühl schwer festzumachen. Wissenschaftlich gesehen ist zwar die Grundlage für Ekel, die eng mit dem Würge- und Brechreflex verbunden ist, allen Menschen angeboren. Doch die Ekelreaktion selbst wird erlernt und hängt mit vielen Faktoren zusammen.

Heimerdinger hat sich mit einer Gruppe Studenten im Rahmen eines Buchprojektes dem komplexen Thema Ekel verschrieben. Ekel gilt als Primäreffekt oder Basisemotion, das heißt er ist ein elementarer Grundbaustein des menschlichen Gefühlslebens. Als solcher wird Ekel auch als Affekt klassifiziert. Denn in ekelhaften Situationen verlieren wir praktisch die Kontrolle über unseren Körper. Es dreht uns sprichwörtlich den Magen um. In der Psychologie spricht man von "fehlender oder durchbrochener exekutiver Kontrolle". Aber ganz einig ist sich die Wissenschaft bei der Einteilung sogenannter Primäraffekte nicht. Die Klassifikation des US-amerikanischen Anthropologen und Psychologen Paul Ekman gilt dabei als eine, die am meisten Zuspruch findet. Ekman zufolge zählt Ekel neben Freude, Wut, Furcht, Verachtung, Traurigkeit und Überraschung zu den humanen Universalien.

Kulturanthropologische Seite des Ekels

Komplizierter wird es, wenn man die kulturanthropologische Seite des Ekels in Betracht zieht. Denn gegen welche Objekte und Situationen sich unser Abscheu genau richtet, ist nicht angeboren, sondern wird im Laufe der Sozialisation erlernt. Darum haben Kleinkinder kein Problem damit, sich Fäkalien oder Würmer in den Mund zu stecken. Die grundlegende Fähigkeit oder Anlage, sich zu ekeln, tragen wir also alle in uns. Allein wovor, wann und in welchem Ausmaß das Gefühl zum Tragen kommt, ist von Mensch zu Mensch verschieden und eben erlernt.

Besonders deutlich wird das beim Thema Nahrungsmittel. Grundsätzlich dürfte eine Funktion des Ekels damit zusammenhängen, verdorbenes oder giftiges Essen zu vermeiden und in weiterer Folge – hier kommt der Brechreiz zum Tragen – es schnell wieder aus dem Körper zu befördern. Während der Abscheu vor Schimmligem nachvollziehbar ist, variieren Nahrungstabus je nach Kulturkreis sehr stark. Auch zeitlich sind Lebensmittel einer gewissen Beliebtheitskonjunktur unterworfen. In absehbarer Zeit werden wohl Insekten auf unserem Speiseplan stehen, was für die meisten heute noch unvorstellbar ist.

Euter und andere Delikatessen

Bei den Innereien zeigt sich dieser Wandel sehr deutlich. War es bis ins 19. Jahrhundert noch Usus, dass tierische Produkte wie Hirn, Kutteln oder Euter auf dem Speiseplan standen, so rümpfen heute die meisten Menschen die Nase, wenn man ihnen derlei servieren würde. Der deutsche Volkskundler Utz Jeggle hat den Ekel in Bezug auf Nahrung als "Verbindungslinie zwischen Körper und Kultur" beschrieben. Er führt die alte, magische Vorstellung ins Treffen, dass sich der Mensch mit dem, was er isst, auch immer symbolisch etwas miteinverleibt. Jeggle verbindet etwa den Ekel vor fremden Speisen auch mit der Angst vor fremden Kulturen. Auch bei der Erziehung von Kindern, die oft dazu gezwungen werden, Dinge zu essen, vor denen sie sich ekeln, spielt das eine Rolle.

In der modernen Gesellschaft hat sich der Fokus verändert. Unser Nahrungsmittelangebot ist deutlich sicherer, wir brauchen den Ekel kaum mehr als Schutzaffekt. Daher fand eine Verlagerung auf die emotionale Ebene statt. Der Emotionspsychologe Paul Rozin spricht dabei von "impersonellem Ekel", der nicht mehr in erster Linie dazu dient, den Körper zu schützen, sondern die Seele. Ein Beispiel dafür wäre, sich etwa vor dem angewärmten Stuhl in einer Straßenbahn zu ekeln. Es ist die Empfindung einer ungewollten körperlichen Nähe, die uns in einem solchen Fall schaudern lässt, erklärt Ethnologe Heimerdinger. Die Wärme des Gesäßes des zuvor dort Gesessenen kann uns praktisch nichts anhaben, die Reaktion wäre also nicht nötig. Dennoch löst dies bei vielen Ekel aus.

Auch die moralische Komponente spielt eine gewichtige Rolle dabei, wovor wir Abscheu empfinden, wie Heimerdinger erklärt. Beim Thema Essen habe etwa die Entfremdung vom Akt des Schlachtens dazu geführt, dass viele Menschen damit heute ein Problem haben. "Ekel ist etwas, das im Kopf stattfindet", so der Ethnologe. Daher sei auch der damit verbundene moralische Überbau immer von Bedeutung.

Sonderfall Sexualität

Deutlich wird das auch bei gesellschaftlichen Tabus, etwa im sexuellen Bereich, die Ekelreaktionen hervorrufen können. "Wobei die Sexualität ohnehin ein Sonderfall ist, weil das Thema Körperflüssigkeiten und Ekel hier in ganz andere Kontexte eingebettet ist", sagt Heimerdinger. So seien unter der Überschrift des Sexualtriebes Dinge möglich, die sonst undenkbar wären. Während es das Normalste auf der Welt sei, sich zu küssen, hätten etwa die meisten Menschen schon große Probleme mit der Vorstellung, die Zahnbürste eines anderen zu benutzen.

Einerseits dient Ekel dazu, uns zu schützen oder abzugrenzen, aber er kann auch positiv wahrgenommen werden. Denn Abscheu hat auch eine verbindende Komponente, wie Heimerdinger am Beispiel populärer TV-Formate erklärt, bei denen die Teilnehmer diverse ekelerregende Herausforderungen meistern müssen. Neben Schadenfreude und Voyeurismus unterstellt der Ethnologe dem Publikum beim Betrachten solcher Szenen Mitgefühl. Die Zuseher und die Prominenten sind in ihrer Abscheu vereint. Hier vermag Ekel also ein positives Gefühl der Nähe herzustellen.

Umgang mit Ekel lernen

Letztlich kann man den Umgang mit Ekel auch lernen. In manchen Berufen, wie etwa der Pflege, ist dies sogar nötig, erklärt Heimerdinger: "Wer lang in dieser Branche arbeitet, nimmt es als Teil seines professionellen Selbstbildes wahr, damit umgehen zu können." Wobei langsam ein Wandel stattfinde. Während etwa ältere Generationen von Krankenschwestern noch mit Stolz darauf verwiesen haben, sich vor nichts zu ekeln, so werde dies nun schon in der Ausbildung anders gehandhabt. Abscheu zu artikulieren gelte nicht mehr als Schwäche.

Die abstoßende Wirkung von Ekel wird sogar zu Erziehungszwecken instrumentalisiert. Beispiele sind die Schockbilder auf Zigarettenpackungen oder Kampagnen gegen Massentierhaltung mit Horrorszenen aus Schlachthöfen. Allerdings ist die Wirkung beschränkt, so Heimerdinger, denn Ekeleffekte sind zeitlich begrenzt: "Der Mensch ist Meister im Ausblenden." (Steffen Arora, 22.3.2018)