"Meine demenzkranke Mutter kann sich in ihrem Lebensbüchlein finden, wenn sie sich wieder einmal verloren hat."

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Als die Mutter von Margit M. an Demenz zu leiden begonnen hat, vertiefte sich ihre Tochter in die einschlägige Literatur. Viel wurde da geschrieben über diese Krankheit, bei der es zu einem schleichenden Vergessen kommt. Beim Lesen eines der Bücher hatte Margit M. plötzlich eine Idee: Warum nicht ein ganz persönliches Buch gegen das Vergessen schreiben? Warum nicht alles, besser: vieles von dem aufzeichnen, was ihre Mutter ausmachte? Gesagt, getan.

Das Projekt "Bevor ich es ganz vergesse" begann. Die Mutter erzählte begeistert und ausschweifend darüber, wie es war als Kind im Krieg, wie sie später ihren Mann kennenlernte und wie es war, als sie zeitweise zu sechst in einer kleinen Gemeindebauwohnung lebten. Die Tochter schrieb die Geschichten auf.

Erinnerungsarbeit betreiben

Vieles war auch für sie neu. Oft nahmen die beiden Fotos zu Hilfe, kramten diverse Schuhschachteln voll mit Briefen, Erinnerungsstücken, Postkarten und kleinen Geschenken durch. Die Dinge bekamen einen Kontext, sodass die Mutter in Erinnerungen schwelgen und die Tochter viele kleine Geschichten erfuhr. Ganz wichtig in der Erinnerungsarbeit war, dass die Mutter erklärte, wer auf den Fotos abgebildet war. Margit M. übertrug all diese Informationen in eine Erinnerungsmappe, die im Grunde genommen zu einer immer umfassenderen Datei am Computer anwuchs.

Die Idee für dieses Erinnerungsheft hatte Margit M. dem Buch "Demenz und Alzheimer verstehen" (Verlag Beltz) zu verdanken. Die Autorin Huub Buijssen berichtet darin von einer dementen Heimbewohnerin, die im Gegensatz zu vielen anderen dort über eine von einem nahen Verwandten aufgezeichnete Lebensgeschichte verfügte.

Eine der Pflegerinnen entdeckte das Büchlein und lernte die Frau dadurch erst richtig kennen. Das ermöglichte eine Beziehung, die ohne diese Aufzeichnungen nicht möglich gewesen wäre. Sie verstand auch viele Aussagen besser, fand sich im Labyrinth der Gedanken und Gefühlen dieser kranken Person besser zurecht. Je mehr man weiß, umso größer das Verständnis.

Über früher reden

Für Margit W. und ihre Mutter stand ein zukünftiger Aufenthalt im Pflegeheim in der Arbeit an ihrer Erinnerungsdatei allerdings nicht im Vordergrund. Die Familiengeschichten zu erfahren, das zählte. Dadurch bekamen auch die Besuche eine neue Qualität. Den beiden fehlte es nie an Gesprächsstoff, eine Gegebenheit, die vor der Erinnerungsarbeit nicht immer der Fall war. Was eines Tages mit der Mutter und ihrem langsam schwindenden Erinnerungsvermögen sein würde, die Frage, wie lange sie noch allein würde leben können, rückte in den Hintergrund.

Die Tour d'Horizon eines Lebens wurde ein berührender Prozess: Margits Mutter war Magd gewesen, der Vater Gemeindeviehhirte. Dann kam der Krieg, der Einsatz in Stalingrad. 1943 erhielt sie die Nachricht, ihr Mann würde vermisst. Und auch wenn das Ereignis schon lange Jahre zurückliegt: Noch immer bewegt es die alte Frau. Sie erzählt, wie sie sich aus Maiskolben Puppen gebastelt hatte. Vieles wusste die Tochter nicht. Und einiges erschien ihr auch nicht wert, es aufzuzeichnen. Die Erinnerungen der Mutter schrieb sie in der Ich-Form auf.

Biografischer Ansatz

In der Fachliteratur wird das, was Tochter Margit M. intuitiv machte, als "biografischer Ansatz" bezeichnet. Die Überlegung dahinter: Die Vergangenheit eines Demenzkranken ist zum Verständnis seiner Persönlichkeit ungeheuer wichtig. Während das Interesse an Gegenwart und Zukunft der Betroffenen mehr und mehr schwindet, bleibt die frühere Lebensgeschichte prägend.

Was macht eine Person aus? Was war der frühere Beruf? Wofür interessiert sie sich? Was macht ihr Spaß? Beim biografischen Ansatz werden Vorlieben, Werte und Ängste zutage befördert. Es sind Anhaltspunkte zur Orientierung für all jene, die eine demenzkranke Patienten begleiten. Während sie ihre Erinnerung verlieren, behalten die anderen den Überblick, das ist auch in dem vom Verein für Konsumenteninformation herausgegebenen Buch "Alzheimer" nachzulesen.

Denn wie bei hintereinander aufgestellten Dominosteinen fallen bei Demenz Erinnerungen weg, das Gedächtnis verliert die Möglichkeit, darauf zuzugreifen. Das Vergessen beginnt bei rezenten Ereignissen und arbeitet sich von der Gegenwart ausgehend zurück. Mit anderen Worten: Die Krankheit arbeitet sich immer tiefer ins Gedächtnis hinein. Die Erinnerungen aus der Vergangenheit bleiben am längsten erhalten, und das ist der Grund, warum viele Patienten zunehmend in der Vergangenheit leben.

Persönlichkeit bleibt

Mit dem biografischen Ansatz bekommen auch Betreuungspersonen Einblick in vergangene Zeiten. Das Erinnerungsbüchlein von Margit und ihrer Mutter nahm jedenfalls Gestalt an. Fotos und Ansichtskarten wurden digitalisiert und ins Erinnerungs-File kopiert, die Feldpostbriefe wurden transkribiert und in die Datei übertragen. Alles in einer recht großen, gut lesbaren Form – zumindest 14-Punkt-Schrift.

Als die Mutter eines Tages schließlich wirklich in ein Pflegeheim musste, war die Mappe fertig: eine Lebensgeschichte auf 25 Seiten. Dies sei genug, erläutert Margit M., die über die Länge lange nachgedacht hatte. Ein zu umfangreiches Konvolut hätte die Leser überfordert, vor allem auch das Pflegepersonal, die ja ohnehin meist unter ziemlichem Arbeitsdruck arbeiten.

Wer mit Margits Mutter zu tun hat, kann im Erinnerungsbuch nachschauen und Antworten finden, die die Demenzkranke selbst nicht mehr geben kann. Aus welchem Milieu kommt sie? Welche Schule hat sie besucht? Welchen Beruf hat sie ausgeübt? Wie war ihre Ehe? Wie viele Kinder hat sie? Vor allem gibt das Buch auch Auskunft darüber, was Margits Mutter mag – Brettspiele zum Beispiel -, und, noch viel wichtiger, was sie gar nicht mag: enge Halsausschnitte an Kleidungsstücken zum Beispiel, Linsen, Eiernockerln und laute Musik.

Eine Art Dokumentation

Auch für Verwandtenbesuche hat sich die Mappe, die den Titel "Bevor ich es vergesse" bekam, als sehr wertvoll erwiesen. Sie funktioniert ähnlich wie ein Fotoalbum, das man bei Besuchen gemeinsam anschaut. "Meine demenzkranke Mutter findet sich darin, wenn sie sich wieder einmal verloren hat", erläutert die Tochter.

Auch an die Krankheit wird in diesen Aufzeichnungen erinnert. Wie sie begonnen hat und wie sie die Mutter der Tochter erzählt hat. Und wie die letzten Wochen und Monate waren, als sie noch zu Hause lebte: "Ich war mir ein bisserl fremd und habe mich nicht mehr so richtig ausgekannt in meinen Zimmern", steht da zu lesen – "Kann doch passieren".

Im Pflegehandbuch von Ingrid Hametner (Brigitte-Kunz-Verlag) wird die Biografie des kranken Menschen als Schlüssel zum Verständnis und zur Verständigung definiert. Hametner schlägt vor, dass es im Zimmer von Demenzkranken auch einen Schrank geben sollte, in dem ein paar persönliche Utensilien aufbewahrt werden können. Diese zu suchen oder immer wieder neu zu ordnen sei wichtig.

Aktivität unterstützen

Denn auch der Schrank wird zu einem Teil der Lebensgeschichte und der eigenen Vorlieben: Vielleicht werden darin Uhren, Handtaschen, Fotos oder Werkzeuge aufbewahrt. Es sind Gegenstände, die für die Vergangenheit stehen, beruflich sowie privat.

Zum biografischen Pflegeansatz gehört dann auch, dass man Menschen Aufgaben machen lässt, die sie früher oft gemacht haben und deshalb gut können: Staub wischen zum Beispiel oder Erdäpfel schälen. Menschen mit Demenz können keine komplizierten Tätigkeiten mehr ausführen, aber einfache, routinemäßige Aktivitäten schaffen sie lange Zeit.

Ob es nun an ihrem Lebensbuch liegt oder auch nicht: Marie W. ist eine Vorzeigepatientin im Pflegeheim. Trotz fortschreitender Demenz und der damit einhergehenden Unwilligkeit und Sturheit ist sie freundlich und lustig geblieben. Dass sie sich verstanden fühlt, könnte der Grund dafür sein. (Johanna Ruzicka, CURE, 16.6.2018)