Der bulgarische Politologe Ivan Krastev setzt sich seit vielen Jahren mit autoritären politischen Strömungen in Osteuropa auseinander. Sein im vergangenen Jahr erschienener und äußerst erfolgreicher Essay "Europadämmerung" war eine Auseinandersetzung mit den Erfolgsstrategien der Nationalisten in Europa. Wie also sieht der Intellektuelle den Triumph Orbáns in Ungarn?

STANDARD: Ungarns Regierungschef Viktor Orbán ist bekannt dafür geworden, dass er die illiberale Demokratie in Ungarn aufbauen will. Was können liberalen Demokraten nach seinem Wahlsieg tun, wie lässt sich die liberale Demokratie verteidigen?

Krastev: Nachdem Sieg der Partei für Recht und Gerechtigkeit (PiS) in Polen im Jahr 2015 hat Adam Michnik, einer der liberalen Ikonen des Landes, lamentiert: "Manchmal verliert eine schöne Frau den Verstand und geht mit einem Schuft ins Bett." Nach dem, was nun in Ungarn passiert ist, können wir schlussfolgern: Die Frau hat sich dazu entschlossen, den Bastard zu heiraten. Zuerst sollten wir erkennen, dass Viktor Orbán ein sehr starker, talentierter und strategisch denkender Führer ist. Das ist alles kein Unfall, was in der EU passiert. Orbán propagiert eine Alternative, die auch in anderen EU-Ländern erfolgreich sein könnte, vor allem in Ländern Osteuropas. Das Modell kann aber selbst für Eliten und eine Wählerschaft in Westeuropa anziehend sein. Man sollte also Orbáns Erfolg ernst nehmen. Bisher gab es eine Tendenz, die populistischen und illiberalen Strömungen als eine Art Protestbewegung zu sehen. Das ist ein Fehler. Wir müssen uns also intensiver damit beschäftigen, was Orbáns Erfolg ausmacht, was sich woanders kopieren lässt und was nicht.

STANDARD: Aber was sollten Angela Merkel oder Emmanuel Macron tun? Orbán herausfordern, ihn attackieren?

Krastev: Orbán auszugrenzen wird nicht funktionieren. Ihm liberale Prinzipien entgegenzuhalten auch nicht. Er verfügt nun über eine sehr große Legitimation in seinem Heimatland, während viele der ihm gegenüber feindlich eingestellten Regierungen politisch einen schweren Stand haben. In dem Moment, in dem diese beginnen, Orbán anzugreifen, machen sie ihn zu einer echten Alternative für Teile der eigenen Bevölkerung. Es gibt überall in Europa Parteien, die sich gegen Einwanderung wenden, denken Sie an die AfD in Deutschland.

Foto: Newald

STANDARD: Nicht ignorieren, aber auch nicht attackieren: Was bleibt dann?

Krastev: Die Vertreter einer liberalen Ordnung müssen eine Frage lautstark in der Debatte einbringen: Was würde geschehen, wenn andere Länder in Europa damit beginnen, die Politik Orbáns nachzumachen, wenn sich die nationalistische Politik also am Kontinent durchsetzt? Orbán und auch die Regierung in Polen nutzen derzeit eine antideutsche, nationalistische Rhetorik, vollziehen dabei aber immer einen Balanceakt. Sie wollen nie so weit gehen, dass ihre Worte auch schmerzliche Konsequenzen für die eigene Wirtschaft im Land haben. Die Investoren sind sich der Probleme mit der Rechtsstaatlichkeit in Ungarn und Polen bewusst, aber zur gleichen Zeit entwickeln sich sowohl die ungarische als auch die polnische Wirtschaft gut, und die Tatsache, dass die beiden Länder EU-Mitglieder sind, dient als eine Absicherung. Aber wenn nun jedes Land wirklich beginnt, sich nur noch um sich selbst zu kümmern? Warum sollten dann zum Beispiel deutsche Konzerne noch Jobs in Osteuropa schaffen? Die Automatisierung könnte es ermöglichen, Pkws künftig auch in Deutschland günstig zu produzieren. Die liberalen Kräfte müssen den Menschen klarmachen, dass Orbáns Konzept mit ganz realen Kosten für die Ungaren verbunden ist.

STANDARD: Aber kann das wirklich etwas nutzen? Die Bausteine für den Erfolg der Fidesz sind doch sehr simpel: Geschürt wird Angst vor Migranten.

Krastev: Wir sollten nicht den Fehler machen, alles, was von Orbán kommt, als reine Propaganda anzusehen. Der Aufstieg des Orbán-Regimes geht ebenso wie der Triumph der Nationalisten in Polen exakt einher mit einer Zeit, in der die Gesellschaften in Osteuropa angefangen haben, nicht nur Einwanderung, sondern auch Auswanderung zu fürchten und als ein Problem zu begreifen. In einer Europäischen Union mit offenen Grenzen, in der den jungen Menschen über Jahre hinweg erzählt wurde, dass sie den Lebensstil im Westen nachahmen sollen, ist es wenig verwunderlich, dass ein großer Teil dieser Menschen in arbeitsfähigem Alter ihren Heimatländern in Osteuropa auch tatsächlich den Rücken gekehrt hat. Seit 2010, der Machtübernahme Orbáns, haben mehr Menschen Ungarn verlassen als nach dem gescheiterten Ungarnaufstand 1956. Die Angst, dass das eigene Land entvölkert wird, ist in vielen Regionen real, und da ist eine ganz spezielle Mentalität entstanden.

Bild nicht mehr verfügbar.

Ungarns Premier Viktor Orbán.
Foto: Reuters

STANDARD: Und zwar?

Krastev: Orbán und die Fidesz erzielen mit ihrer Rhetorik eine ähnliche Wirkung wie einst die Berliner Mauer: Sie behaupten, dass Ungarn der einzige Ort sei, wo Ungarn heute noch gut leben können. Die Menschen sollen nicht vom Westen, nicht von Deutschland und Österreich träumen, weil es diese Länder gar nicht mehr gebe – Einwanderung habe diese Staaten zerstört und zu einem Teil des Nahen Ostens gemacht. Erinnern Sie sich daran, als dieser ungarische Minister (János Lázár, Kanzleramtsminister Orbáns, Anm.) nach Favoriten (Wien-Favoriten, Anm.) kam und ein Video machte, um davor zu warnen, wie es dort angeblich wegen der Migranten aussieht? Das war aus Sicht der Regierung in Budapest eine wichtige Aktion, denn um zu verhindern, dass Menschen in den Westen gehen, muss man ihnen erklären, dass es keinen Westen mehr gibt. Das hat geklappt: Die Ungarn haben begonnen, Orbán als einen Verteidiger ihrer Lebensart, ihres Staates, ihrer Mentalität zu sehen und zu begreifen. Obwohl es keine geschlossenen Grenzen gibt, wollen viele zu Hause bleiben. Das ist in eine beachtliche Leistung.

STANDARD: Aber die rhetorischen Angriffe gegen Einwanderer, die es in Ungarn kaum gibt, spielten ja auch eine Rolle für den Sieg der Fidesz.

Krastev: Natürlich. Ungarn ist wie der Rest Osteuropas eine ethnisch viel homogenere Gesellschaft als der Westen. Den intensiven Kontakt mit anderen Kulturen gibt es im Osten in dieser Art nicht. Diese Homogenität geben die Nationalisten vor zu verteidigen und können damit für sich reklamieren, die Lebensart der Menschen zu schützen. Eine wichtigere Rolle spielt auch die Umgestaltung des Staates, die die Fidesz in den vergangenen Jahren durchgeführt hat. Sie hat die Kontrolle über zahlreiche Medien und staatliche Institutionen übernommen und das Wahlrecht mit ihrer Zweidrittelmehrheit so umgeschrieben, dass die Regierenden kaum noch verlieren können. Ich will aber sagen, dass wir den Aspekt, dass sich viele in Osteuropa vor einer Entvölkerung fürchten, ernster nehmen müssen. Das trifft übrigens gar nicht nur auf Ungarn zu. Es gab in Deutschland eine Studie, die gezeigt hat, dass in Ostdeuschland, wenn die Auswanderung in einer Region sehr hoch war, dies ein viel besserer Prognosefaktor für den Erfolg der AfD bei Wahlen war, als wenn man auf Einwanderung geachtet hat.

Der Triumph Orbán hätte kaum überzeugender ausfallen können.

STANDARD: Es gibt Liberale, die Österreichs Bundeskanzler Sebastian Kurz schon mit Orbán vergleichen. Wie sehen Sie das?

Krastev: Ich finde die beiden Politiker sind sehr unterschiedlich. Orbán mit Kurz gleichzusetzen beruht auf einer sehr schwachen politischen Analyse und ist ein großer Fehler. Es gibt in Österreich eine Antimigrationsrhetorik, das ist richtig. Aber in Österreich gibt es im Gegensatz zu Ungarn auch Migranten und Flüchtlinge in nennenswerter Zahl. Die Herausforderung, die Migration zu managen, ist in Österreich nicht nur ein imaginäres Problem wie in Ungarn, es gibt echte Probleme. Ich sehe in Österreich auch keinen Versuch, Institutionen derart auszuhöhlen, wie das in Ungarn geschehen ist. Die österreichische Regierung lehnt prinzipiell die Errungenschaften der Post-68er-Generation nicht prinzipiell ab. Niemand in Österreich will Minderheiten die Rechte entziehen, die Gleichstellung zwischen Frauen und Männern wird nicht prinzipiell infrage gestellt. Orbán dagegen spricht öffentlich davon, dass er Ungarn heute gern so hätte, wie es vor elf Jahrhunderten geschaffen wurde. Ich würde sogar sagen: Kurz kann eine echte Alternative auf europäischer Ebene im Kreis der Volkspartei zu Orbán werden. Kurz will Einwanderung nicht ganz verhindern, er will die Wirtschaft nicht nationalisieren, und er scheint kein prinzipielles Interesse daran zu haben, die europäische Integration zu stoppen oder teilweise rückgängig zu machen.

STANDARD: Glauben Sie, dass Orbán versuchen wird, seinen Erfolg in andere Länder zu exportieren?

Krastev: Damit Orbán längerfristig erfolgreich ist, muss er das sogar.

STANDARD: Warum?

Krastev: Wenn die EU ihre Integration fortsetzt, wird das zu einer ernsthaften Gefahr für ihn, weil die Erzählung vom souveränen Staat, der keine Einmischung erlaubt, immer schwieriger wird. Stellen Sie sich einmal vor, es wird so etwas wie eine europäische Staatsanwaltschaft geschaffen, die auch in Ungarn ermitteln darf. Das Gerede von Ungarns unantastbarer Souveränität würde dadurch viel lächerlicher wirken. Orbán muss daher versuchen, andere Gesellschaften zu überzeugen, die Ängste zu teilen, die die ungarische Gesellschaft schon erfasst haben. Der große Kampf in den kommenden Monaten wird sich meiner Meinung nach darum drehen, welche Strategie die europäische Volkspartei 2019 bei den Europawahlen verfolgen soll: Setzt sie auf Antimigrationsrhetorik oder doch auf eine Verteidigung der Toleranz?

STANDARD: Die EU hatte einst eine sehr starke Anziehungskraft auf Ungarn wie auf Polen. Was hat sich verändert, dass die kritischen Stimmen dort so viel lauter werden? Verstehen wir die Diskurse im Osten nicht?

Krastev: Einer der größten Aufreger der vergangene Jahre in Osteuropa war die Erkenntnis, dass Nutella in Bratislava nicht gleich gut schmeckt wie in Wien. Das Gefühl, dass man in Osteuropa Bürger zweiter Klasse ist, ist sehr verbreitet. Es wäre wichtig, wenn die Westeuropäer die Sorgen im Osten ernst nehmen würden. Ich gebe ein Beispiel: Jeder Ungar, der in Österreich oder Deutschland arbeitet, bedeutet, dass all das Geld, das der ungarische Staat in seine Ausbildung gesteckt hat, verloren ist. Im Westen wird darüber diskutiert, wie viel Fördergelder aus Brüssel in Osteuropas investiert werden. Im Osten sieht man diese Rechnung ganz anders. (András Szigetvari, 9.4.2018)