Ein Aktivist protestiert in Verkleidung gegen die mögliche Einführung von Kontrollen an der Grenze zu Nordirland.

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Die Wetterfrösche sagen Belfast für Dienstag Regen voraus. Das ist nicht nur der Jahreszeit angemessen, es entspricht auch der politischen Stimmung der Nordiren. Am 20. Jahrestag jenes Abkommens, das den Bürgerkrieg in der einstigen Unruheprovinz beendete, hält sich die Feierstimmung in engen Grenzen. Zu unklar erscheint die Zukunft der seit 15 Monaten suspendierten politischen Institutionen, zu schwer wiegt die Furcht vor Turbulenzen bis hin zur Gewalt im Gefolge der Brexit-Entscheidung.

Immerhin deutet wenig darauf hin, dass es Schneeschauer geben könnte wie an jenem Karfreitag vor 20 Jahren. Die TV-Bilder bleiben unvergessen: wie die übernächtigen Gestalten – Premierminister, Parteichefs, Delegierte – nach tagelangen Verhandlungen vor die Kameras traten, um über die Einigung zu sprechen, und sich plötzlich ihre Haarschöpfe weiß färbten vom Schneegestöber. Ein Fingerzeig des Himmels? Aber wie wäre er zu interpretieren?

Es gab schon damals jene, die den ungewöhnlichen Niederschlag für ominös hielten. Angeführt wurden sie vom Fundamentalistenprediger Ian Paisley: Die demokratischen Politiker würden "Terroristen auch noch Lösegeld bezahlen", höhnte der Chef der damals kleineren protestantischen Unionistenpartei DUP. Seinem Pendant bei der rivalisierenden UUP, David Trimble, sagte der spöttisch "Nebelhorn Gottes" genannte Schreihals voraus, dieser sei "als Parteichef erledigt".

Schmerzhafte Kompromisse

Paisleys Prognosen gingen unter in der Erleichterung, ja Begeisterung jener, die sich, anders als die DUP, der Mühe des Verhandelns unterzogen hatten und dabei schmerzhafte Kompromisse eingehen mussten. Auf ihren Schultern liege, wie es der damals gerade 44-jährige Premier Tony Blair pathetisch gesagt hatte, "die Hand der Geschichte": Das Ende eines 30 Jahre dauernden Bürgerkriegs mit 3.500 Toten und 47.000 Verletzten war in Sicht. Diese Chance wollten sie sich nicht entgehen lassen, nach dem Grundsatz ihres Verhandlungsleiters, des früheren US-Senators George Mitchell: "Kein menschlicher Konflikt ist unlösbar."

Im gleichen Jahr wurden der Protestant Trimble und der katholische Chef der gewaltfreien Nationalistenpartei SDLP, John Hume, mit dem Friedensnobelpreis geehrt. Doch ihren je eigenen Anteil an der Einigung hatten auch viele andere, allen voran Mitchell selbst. Immerhin drei Jahre seines Lebens opferte der frühere Chef der demokratischen Mehrheitsfraktion im US-Senat der Zukunft von 1,9 Millionen Nordiren, musste sich beschimpfen und verspotten lassen. Gerade erst zum zweiten Mal verheiratet und Vater eines kleinen Buben, war Mitchell in jener Karwoche glasklar: Das Osterwochenende würde er zu Hause verbringen. Sollten die Streithähne bis dahin keine Einigkeit erzielt haben, well, too bad.

Sinn-Féin-Delegierte am Tisch

Hatte der SDLP-Mann Hume in jahrelanger zäher Mission dafür gesorgt, dass die Gewalttäter der irisch-republikanischen Terrortruppe IRA und deren zivile Anführer, die Sinn-Féin-Parteichefs Gerry Adams und Martin McGuinness, sich an Verhandlungen beteiligen mochten – Irlands Premier Bertie Ahern legte sein Gewicht dafür in die Waagschale, dass die Sinn-Féin-Delegierten auch wirklich am Tisch saßen. Und wer will den Beitrag messen, den der Ex-Terrorist David Ervine, Chef einer winzigen protestantisch-loyalistischen Partei, als Vertreter der protestantischen Arbeiterschicht leistete, der es materiell keineswegs besser ging als ihren diskriminierten katholischen Pendants? "Ich schaue nicht jeden Morgen in den Spiegel und frage mich: Bist du nun Ire oder Brite? Ich bin beides", pflegte Ervine zu sagen.

Das Motto fasste zusammen, worauf die Einigung letztlich beruhte: Die Nordiren sollten lernen, gelassen mit ihrer mindestens doppelten Identität umzugehen. Gewiss enthielt die Vereinbarung vom 10. April 1998 manche Ungereimtheiten, belohnte Terroristen ohne Gegenleistung, zerstörte die gemäßigten Parteien. Wahr ist aber auch: Ohne den Deal an jenem Karfreitag wären die weiteren Vereinbarungen nicht zustande gekommen, die den Nordiren 20 weitgehend friedliche Jahre beschert haben.

Über katholischen Wohnvierteln flattert seltener die irische Trikolore, die in den britischen Farben bemalten Bürgersteige loyalistischer Ortsteile verblassen vielerorts. In Belfast bieten ein halbes Dutzend Unternehmen Taxi-Touren zu den Schauplätzen des Bürgerkriegs an – schaurige Wandgemälden, kleine Mahnmalen, bis zu acht Meter hohe Mauern und Zäune. Diese sogenannten "Friedensmauern" haben die Entspannung der vergangenen Jahre überdauert.

Politisches Format

An der Urne haben die Wähler stets die Extreme beider Seiten gestärkt: Sinn Féin auf katholischer, die DUP auf protestantischer Seite. Die zwangsweise Proporz-Regierung ist seit 15 Monaten suspendiert, Arlene Foster (DUP) und die nordirische Sinn-Féin-Chefin Michelle O'Neill stehen sich so unversöhnlich gegenüber wie einst ihre männlichen Vorgänger. Und Theresa Mays Londoner Regierung bleibt bis heute jede Erklärung dafür schuldig, wie sie die Grenze zwischen Nordirland und der Republik im Süden in Zukunft offenhalten will, während sie doch den harten Brexit samt Austritt aus Binnenmarkt und Zollunion anpeilt.

Vielleicht sollten die Nordiren am Dienstag doch feiern, allem Regen zum Trotz. Wenig spricht dafür, dass ihre politischen Anführerinnen das Format der Vorgänger von 1998 besitzen. (Sebastian Borger aus London, 10.4.2018)