Chris Dercon (59), der Kurator als gescheiterter Intendant.

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Wien – Pünktlich am Freitag den 13. hat Chris Dercon, heftig angefeindeter Intendant der Berliner Volksbühne, das Handtuch geworfen. Geraume Zeit vor Ende seiner ersten Spielzeit hat der Belgier mit Klaus Lederer (Die Linke), dem Berliner Senator für Kultur und Europa, Einvernehmen über die sofortige Auflösung seines Vertrages hergestellt.

Mit Dercons Demission endet ein wirres und, wie sich jetzt zeigt, unmöglich fertigzustellendes Kapitel in den Annalen der Berliner Theatergeschichte. Die Eingebung, einen Kurator aus dem Felde der bildenden Kunst als Nachfolger von Frank Castorf 2017 am Rosa-Luxemburg-Platz zu installieren, war von Anfang an unter keinem guten Stern gestanden.

War ein Vierteljahrhundert lang die ostdeutsche Trutzburg im Herzen Berlins: die Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz, nach Dercons Rückzug nunmehr verwaist.
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Dercons Nominierung entsprang einer gemeinsamen Idee zweier Sozialdemokraten, des regierenden Bürgermeisters Michael Müller und seines Kunststaatssekretärs Tim Renner. Renner, der gelernte Journalist und Musikproduzent, ließ bereits im März 2015 sein Faible für Dercon an die Öffentlichkeit sickern.

Letzterer leitete damals die Londoner Tate Gallery of Modern Art. Prompt fegten Stürme der Entrüstung durch Berlin-Mitte. Rüstige Direktoren wie Claus Peymann (Berliner Ensemble) erhoben grollend das Wort gegen das Vorhaben. Dieses wurde zur Unbotmäßigkeit gegenüber den alten, inszenierenden Intendanten erklärt. In den Augen eingefleischter Berliner glich Dercons Inthronisierung vor allem einer vorsätzlichen Demontage Castorfs.

Zweitrangig war mit einem Mal, dass der Prenzlauer Eisenwarenhändlerssohn 25 Jahre die Geschicke des klobigen Theaters OST geleitet hatte. Längst war die Anarchie von Castorfs Regiekunst ein Suchtmittel geworden. Dessen Absetzung glich einem Affront.

Bruchlinien durch das Kulturmilieu

Demgegenüber wurden Dercons primäre Eigenschaften und sekundäre Tugenden allesamt zu Fehlern und Schwächen erklärt. Seine Weltbürgerlichkeit. Sein dringender Impuls, Gattungsgrenzen zu missachten und in ein Haus wie die Volksbühne auch Tanz, Kunst und Performance hineinzupacken. Bruchlinien wurden sichtbar, und sie laufen schroff gezackt durch das Kulturmilieu. Ausgerechnet Dercon wurde plötzlich zum Platzhalter des Neoliberalismus erklärt. Sein polyglotter Zugang zur Kunst, sein Gestus des Sammelns galten als besonders hinterhältige Symptome kapitalistischer Gesinnung. Wer Kunst nicht wegen ihrer lokalen Bauart liebt, sondern sie einzig unter dem Zeichen allseitiger Verwertbarkeit anschaut, der kann gestern in London Bilder ausstellen. Heute macht er dafür in Berlin Theater.

Wegen solcher Vorwürfe galt Dercon als Gottseibeiuns der Globalisierungsgegner. Jetzt, zahllose Hassbekundungen später, übernimmt zunächst der designierte Geschäftsführer Klaus Dörr "kommissarisch" die Geschäfte der Intendanz. 16 Premieren hatte Dercon im ersten Halbjahr gezeigt, darunter 13 eigene. Zuletzt führte Filmer Albert Serra sein eigenes Stück Liberté auf, ein Werk für Kostümmacher, Barockhimmelmaler und ehrwürdige Stars wie Ingrid Caven und Helmut Berger. Die Volksbühne ist leergespielt. Etatprobleme werden kolportiert.

"Solche Formen der Auseinandersetzung entbehren jeder Kultur"

Manche Kritiken waren vernichtend, die meisten nicht einmal mehr abwartend. Stützen verließen das Haus, zuletzt Schauspielerin Sophie Rois im Dezember. Der Berliner Kultursenator steht erst einmal vor einem Scherbenhaufen. Vorbei die Protestaktionen der letzten Monate, die willkürlichen Besetzungen der Volksbühne, das Anbringen von Schmähplakaten. Lederer betont noch einmal, "dass die persönlichen Angriffe aus Teilen der Stadt gegen Chris Dercon in der Vergangenheit inakzeptabel waren. Solche Formen der Auseinandersetzung sind unwürdig und entbehren jeder Kultur".

Keineswegs jeder Grundlage entbehren Gerüchte, Matthias Lilienthal könnte eher früher als später die Nachfolge Dercons antreten. Erst kürzlich gab Lilienthal an, seinen bis 2020 laufenden Vertrag an den Münchner Kammerspielen nicht verlängern zu wollen. Der gebürtige Berliner Lilienthal, bis 1998 Chefdramaturg am Rosa-Luxemburg-Platz, kennt die Volksbühne besser als die meisten Menschen ihre eigene Westentasche. Die Pointe: Ausgerechnet jetzt machen sich zahlreiche Kulturschaffende für einen Verbleib Lilienthals in München stark. (Ronald Pohl, 14.4.2018)