Gehrhard Fehr (48), CEO und Behavioral Designer, meint, Bürger wollen nicht wie Kunden behandelt werden. Auch der ORF könnte sein identitätsstiftendes Potenzial stärker nutzen.

Foto: Katharina F.-Roßboth

Wien – "Menschen sind bereit, extrem viel zu geben, ohne dass sie was dafür bekommen," sagt der Unternehmers- und Politberater Gerhard Fehr. Was für Mainstream-Ökonomen ein bisschen seltsam klingt, zeigen Experimente der Verhaltensökonomie. Das evidenzbasierte Menschenbild sei eine wertvolle Ressource für Entscheidungsträger, ist der ausgebildete Ökonom überzeugt, nachdem er bereits in den 1990ern seinen Bruder, den Pionier der Disziplin, Ernst Fehr, bei dessen Forschung unterstützte.

Dieser Gedanke ließ ihn lange nicht los, und daher gründete der Exbanker vor zehn Jahren in Zürich mit seinem Bruder das Unternehmen Fehr Advice. Seither berät er weltweit Regierungen und Firmen. "Dabei gießen wir den Fundus aus 25 Jahren Forschung in Management-Tools."

Bürger statt Kunden

Unter welchen Umständen sich Menschen kooperativ verhalten, ist dabei oft eine zentrale Fragestellung. Wichtig sei das Gefühl, irgendwo dazuzugehören. Dieser "Identitätsnutzen", wie Fehr im Fachjargon sagt, werde aber von der Politik häufig unterschätzt:

Man glaubte im Geiste moderner Managementtheorien, den Bürger wie einen Kunden behandeln zu müssen. Ein Irrtum: "Das hat die Beamtenmentalität komplett zerstört," sagt Fehr. Aus Staatsdienern wird der Mitarbeiter im Call-Center. Aber der Finanzminister ist kein Chief Financial Officer, und Bürger wollen nicht behandelt werden, als hätten sie sich für ein Handy entschieden. Sie leben in einem Land und teilen Werte und Normen. "Wer sie trotzdem wie Kunden behandelt, reduziert ihre Kooperationsbereitschaft," betont Fehr.

Schweizer Bundesbahnen auf Bevölkerung angewiesen

Das zeigt etwa das Beispiel der Schweizer Bundesbahnen (SBB). Die Kosten im Personenverkehr übersteigen bei weitem die Einnahmen. Vor allem in der Schweiz, wo die Bürger über große Projekte wie Tunnelbauten abstimmen, ist die Bahn auf die Unterstützung der Bevölkerung angewiesen. Das gelinge, weil die SBB als Symbol für die Schweizer Identität funktioniert, wie Fehrs Experimente gezeigt haben.

Die SBB stehen aber vor einem Problem: Zu Stoßzeiten sind die Züge überfüllt, in den Randzeiten bleiben die Waggons leer. Das ist teuer und ineffizient. Die aus ökonomischer Sicht naheliegende und von der Politik vorgeschlagenen Lösung heißt "mobility pricing": Zu Stoßzeiten soll das Ticket mehr kosten, zu Randzeiten weniger. Die Empörung der Bürger war groß, in Umfragen wird das Konzept mehrheitlich abgelehnt. "Sobald Preise systematisch zu differenziert werden, beginnen Bürger ihr Kooperationsverhalten Richtung null zu senken." Sie fühlen sich wie Kunden, der Identitätsnutzen geht verloren.

ORF nicht wie Netflix

Das Gleiche gilt für den öffentlichen Rundfunk, einen Sektor, den Fehr auch beraten hat. "Sollte der ORF auf die Taktik setzten, die Rundfunkgebühren wie ein Netflixabo anzupreisen, kann er sich gleich selber abschaffen."

Die Stärke der nationalen Medienhäuser, als identitätsstiftend wahrgenommen zu werden, birgt Potenzial: Öffentliche Medien genießen ein hohes Vertrauen. Das macht sie communityfähig. "Der ORF könnte Facebook Konkurrenz machen", sagt Fehr, "und zwar ohne Werbung und somit ohne Datenparasiten." Andere Medien könnten insofern eine Plattform für eigene Auftritte mitnutzen.

Die Erkenntnisse basieren auf Verhaltensexperimenten, die das Behavioral-Design-Team für Kunden durchführt. "Die wichtigste Managementressource in der digitalen Welt ist die Fähigkeit, Experimente zu machen," zeigt sich Fehr überzeugt. Seine Firma baut gerade ein entsprechendes Team in Wien auf. Die Österreicher seien nicht nur top ausgebildet, sondern auch ein bisschen schlampig, sagt der Vorarlberger. "Das macht experimentierfreudig." (Leopold Stefan, 19.4.2018)