Bild nicht mehr verfügbar.

"Das Zeitalter der Aufklärung – Adam Smith 2008": Teil einer Installation des britisch-nigerianischen Künstlers Yinka Shonibare, die einen kopflosen Adam Smith zeigt.


Fotos: Reuters / Will Burgess

Gäbe es den Ökonomienobelpreis – Kate Raworth würde ihn verdienen. Sie wäre nach 75 Männern die zweite Frau, die den sogenannten "Preis der Schwedischen Reichsbank in Wirtschaftswissenschaft zur Erinnerung an Alfred Nobel" erhielte.

In ihrem Buch Donut-Ökonomie dekonstruiert sie das vorherrschende neoklassische Paradigma der Wirtschaftswissenschaft – vom "Marktmechanismus" über den "Homo oeconomicus" bis zum Glauben an das BIP – und setzt sieben neue Denkansätze für die ÖkonomIn des 21. Jahrhunderts an dessen Stelle, beginnend mit einem neuen Ziel für die Disziplin. Damit liefert sie der weltweit wachsenden Studentenprotestbewegung – von der angelsächsischen Rethinking Economics bis zur deutschen Gesellschaft für plurale Ökonomik – eine allgemein verständliche und von mathematischem Ballast befreite Theoriegrundlage.

Raworth, die sich als "frustriert" von ihrem Studium der Ökonomie deklariert, "weil diese eigenartige Annahmen darüber traf, wie die Welt funktionierte, während sie die meisten Dinge beschönigte, über die ich mir Sorgen machte", beginnt ihr Buch mit dem Auszug von Studierenden aus der Vorlesung von Gregory Mankiw in Harvard, als dieser ein zu einseitiges Bild der Ökonomie zeichnete. Mankiw folgt als weltweit führender Lehrbuchautor Paul Samuelson, dessen Standardwerke sich in 60 Jahren weltweit vier Millionen Mal verkauft haben. Berühmt wurde Samuelson für seinen Ausspruch: "Es ist mir egal, wer die Gesetze eines Landes schreibt, solange ich die Lehrbücher für Wirtschaftswissenschaft schreiben kann."

Leben im Donut als neues Ziel

Raworth kritisiert die unvollständigen, aber machtvollen Bilder der Neoklassik, beginnend mit Samuelsons Kreislaufdiagramm: "Ein Bild sagt mehr als 1000 Worte. (…) Wenn wir die Wirtschaftswissenschaft neu schreiben wollen, müssen wir auch ihre Bilder neu zeichnen." In den Modellen und Gleichungen der Neoklassik fehlten die wichtigsten Dinge: Natur, Ethik, Gefühle, Machtverhältnisse oder unbezahlte Hausarbeit und Kinderbetreuung.

Dabei ist "die Care-Ökonomie der Kern der Ökonomie", zitiert Raworth Neva Goodwin. Würden etwa die durchschnittlichen Leistungen einer Hausfrau und Mutter für Kinderbetreuung, Kochen oder Putzen zu Marktpreisen entlohnt werden, ergäbe das in den USA ein jährliches Einkommen von 120.000 US-Dollar. "Adam Smith vergaß bei seinem Loblied auf den Markt, bei dem er feststellt, dass wir ‚nicht vom Wohlwollen des Metzgers, Brauers und Bäckers erwarten […], was wir zum Essen brauchen‘, die Wohltätigkeit seiner Mutter, Margaret Douglas, zu erwähnen, die ihren Sohn von Geburt an allein aufgezogen hatte."

Bekannt geworden ist die ehemalige Oxfam-Ökonomin, die aktuell in Oxford unterrichtet, mit ihrem "Donut-Diagramm". Dieses bildet das Doppeldilemma der Ökonomik ab: Immer noch fehlt es unzähligen Menschen am Allernötigsten, während eine Minderheit im Überfluss lebt und den Planeten gefährdet.

Der Donut setzt sich aus der sozialen Unter- und der ökologischen Obergrenze zusammen. Die Aufgabe einer intelligenten und nachhaltigen Ökonomie wäre es, die globale Wirtschaft in diesem ökosozialen Korridor zu steuern, in der "sicheren Zone des Donuts". Anstatt jedoch dieses Ziel anzustreben, ist es in der neoklassischen Ökonomik unklar, ob es überhaupt ein Ziel gibt: "Die Ökonomik ist zu einer ‚positiven‘ Wissenschaft mutiert, die sich auf die Beschreibung dessen beschränkt, was ist. Aber das hat ein Vakuum aus Zielen und Werten geschaffen", kritisiert Raworth. Gleichzeitig legt die Wissenschaft das Wachstum des Bruttoinlandsprodukts als oberstes (Staats-)Ziel fest. Raworth ruft zur "BIP-Agnostik" auf, denn was wirklich zähle, sei "das Wohlbefinden der Menschen in einem blühenden Netz des Lebens". Raworths Lösungen gehen aus systemischem und interdisziplinärem Denken hervor. Sie setzt auf das Bild "eingebetteter" Märkte, auf die Prinzipien Vielfalt und Resilienz sowie die Berücksichtigung von Rückkoppelungseffekten. Sie schlägt "Designprinzipien" für die Wirtschaft vor, deren wichtigste Verteilungsgerechtigkeit und Nachhaltigkeit sind. Diese müssten a priori in der Wirtschaftsordnung angelegt sein.

Menschliches Wirtschaften

Bezüglich der Umsetzung offeriert sie einen breiten Fächer von Lösungsansätzen. Dieser reicht von neuen Wohlstandsindikatoren bis zur Gemeinwohlbilanz, von Negativzinsen bis Komplementärwährungen, von einer Open Source Circular Economy, die kooperativ angelegt ist, bis zur Demokratisierung von Unternehmen. Insgesamt werden nicht nur Märkte als Quelle von Wohlstand und Gemeinwohl angesehen, sondern gleichrangig auch Haushalte, Gemeingüter ("Commons") und staatliche Dienstleistungen.

Raworth glaubt weder an die alleinige Segenswirkung von Märkten noch an ihre Selbstregulierung: "Die Wirtschaftswissenschaft ist nicht eine Frage der Entdeckung von (Markt-)Gesetzen, sondern eine Frage des effektiven Designs." Sie stellt diese Sichtweise nicht nur dem Selbstverständnis der Neoklassik entgegen, sondern auch der Ideologie "freier Märkte", die von Ökonomenkreisen rund um Friedrich Hayek und Milton Friedman in der Mont-Pèlerin-Society strategisch im Umlauf gebracht wurde.

Raworth antwortet mit Ironie: "Immer wenn jemand die Vorzüge des freien Marktes preist, flehe ich: ‚Zeig ihn mir bitte, denn ich habe ihn noch in keinem Land in der Realität angetroffen.‘" An die Stelle von Mythen und unvoll ständigen Diagrammen und Gleichungen setzt Raworth eine ganzheitliche Sicht auf die Wirtschaft und den Mut zu neuen Bildern und Narrativen; sie setzt auf eine grundlegende Reform der Wirtschaftswissenschaft, um nachhaltiges und menschliches Wirtschaften zu ermöglichen. (Christian Felber, 21.4.2018)