Andrea Nahles (re.) wirft einen skeptischen Blick auf Simone Lange – zu Recht, wie sich später zeigte.

Foto: APA/AFP / Daniel Roland

Es ist, vom meteorologischen Aspekt her, grausam. In Wiesbaden knallt die die Sonne auf den grünen Park. Bänke laden zum Nichtstun unter weißen und rosaroten Bäumen ein. Aber die 600 Delegierten der SPD müssen schon am Vormittag in eine fensterlose Halle. "Jo servus, ihr auch schon wieder da, habt ihr nichts Besseres zu tun?", grüßt eine junge Frau aus Bayern Delegierte aus dem Norden. Diese rollen mit den Augen. Die SPD hält an diesem Sonntag bereits ihren dritten Parteitag in fünf Monaten ab.

Doch immerhin – es gibt in Wiesbaden ein wenig Abwechslung. Diesmal streiten die Genossen nicht um die Frage, ob sie in eine große Koalition sollen oder nicht. Der Höhepunkt dieses Parteitages ist eine Wahl, genauer gesagt eine Kampfabstimmung – die erste seit dem Jahr 1995. Und zum ersten Mal bekommt die SPD eine Frau als Chefin.

"Liebe Delegierte! Schreibt Geschichte! Wählt Simone!" steht auf Transparenten, die einige Fans von Simone Lange, der Flensburger Oberbürgermeisterin, mitgebracht haben. "Ich bin nicht nervös", hatte die Außenseiterin am Abend zuvor noch dem STANDARD erklärt, "aber ich habe schon Respekt vor dem Parteitag."

Kritik an SPD

Am Sonntag spricht sie als Erste, und sie geht mit der SPD hart ins Gericht: "Es fehlt uns an Teamspiel, Offenheit und Glaubwürdigkeit." Auch die Politik der SPD kommt schlecht weg. Lange beklagt "Pflegenotstand", sie will "Schluss machen mit Warteschlangen vor den Sozialämtern und damit, dass unsere Schulen so aussehen, wie sie aussehen". Für viele Menschen seien "Vater und Mutter Staat zu Rabeneltern geworden". Die Menschen sollten "in Zukunft frei von Armut leben können". Lange weist auf all jene hin, die durch die Sozialreformen von Ex-Kanzler Gerhard Schröder "heute in Armut leben, obwohl sie arbeiten". Sie sagt: "Dafür möchte ich mich bei den Menschen entschuldigen."

Als sie spricht, ist es manchmal sehr still in der Halle. Immer wieder bekommt sie Applaus, auch als sie sagt: "Wenn wir jetzt nicht mutig sind, weiß ich nicht, ob wir es in Zukunft noch sein können. Lasst es uns heute machen, lasst uns mutig sein."

Gleich darauf ist Andrea Nahles dran. Fraktionschefin ist sie, Ortsvereinsgründerin war sie, ebenso Kreisvorsitzende, Generalsekretärin, Arbeitsministerin. "Ich bin nicht neu, ich kenne diese Partei", sagt sie. Und, an ihre Mutter gewandt, die bei den Ehrengästen sitzt: "Hallo, Mama! Auch du hast damals sicher nicht gedacht, dass ich mal hier stehen werde."

Nahles will mehr Solidarität

Man merkt, dass es einige viele Sympathien für Nahles gibt unter den Delegierten. Sie bekommt auch Beifall, als sie beschreibt, warum die SPD nur magere 20,5 Prozent bei der Bundestagswahl erhalten hat. Die SPD habe zwar gesagt, dass mehr Gerechtigkeit ihr Ziel sei. Aber, so Nahles: "Wir haben nicht deutlich gemacht, mit welchen Mitteln wir es durchsetzen wollen." Das werde sich von jetzt an ändern: "Es geht um Solidarität, es geht darum, füreinander einzustehen."

Immer wieder erwähnt sie den Begriff, fordert eine "solidarische Marktwirtschaft" und verspricht, nicht zu akzeptieren, dass "Einzelhändler Steuern und Abgaben bezahlen", während Internetplattformen ihr Geld am Fiskus vorbeischleusten.

Auf Lange geht sie nur einmal ein: "Wenn wir jetzt sagen, wir schaffen Hartz IV ab oder wickeln die Agenda 2010 ab, dann haben wir noch keine einzige Frage beantwortet." Und sie verspricht: "Man kann eine Partei in der Regierung erneuern, diesen Beweis will ich ab morgen antreten."

Doch kurz darauf ist es mit der Zuversicht vorbei. Lange bekommt viel mehr Stimmen als erwartet, nämlich 27,6 Prozent. Nahles erhält nur äußerst magere 66,35 Prozent. Das ist das zweitschlechteste Ergebnis in der Geschichte der SPD. Einen kurzen Moment lang schaut Nahles so, als würde sie alles hinwerfen. Aber natürlich tut sie es nicht, sondern lächelt tapfer. (Birgit Baumann aus Wiesbaden, 22.4.2018)