10. Dezember 2017: Ich schaue durch das Fenster der kleinen, zweimotorigen Twin Otter, die uns von der russischen Antarktis-Station Novolazarevskaya, kurz Novo, zur deutschen Neumayer-Station bringen soll. Zunächst sind wir lange über unendlich scheinende Eisflächen geflogen, die nur hier und da von felsigen Gipfeln, weit im Süden von vergletscherten Gebirgsketten durchbrochen wurden. Mehr noch als die fantastischen Gebirgsformen beeindruckt mich der Gedanke, dass noch ganze Gebirge unter diesem kilometerdicken Eis verborgen liegen.

Faszinierende Formen und Farben eines Eisbergs in der Atka-Bucht.
Foto: Elisabeth Schlosser

Jetzt aber taucht wieder die Küste unter uns auf, das Meer ist noch eisbedeckt, große, wunderschön geformte Eisberge liegen verstreut in der Atka-Bucht, an deren Rand die Polarforschungsstation liegt. Ein großes, futuristisch anmutendes, orange-weißes Gebäude auf blauen Stelzen taucht auf, umgeben von unzähligen kleinen Pünktchen, bei denen es sich um Pistenbullys, Schlitten, Container und ähnliches handelt. Es ist die dritte Neumayer-Forschungsstation, und die erste, die über der Schneeoberfläche errichtet wurde. Auf Stelzen, damit der Schnee vom Wind unter der Station hindurch geblasen werden kann, anstatt sie nach und nach im Schnee zu begraben, wie es das (geplante) Schicksal von Neumayer I – damals noch "Georg von Neumayer" (GvN) genannt – und Neumayer II war.

Vor fast 30 Jahren habe ich auf der ersten Station überwintert, 15 Monate lang, zehn Meter unter der Schneeoberfläche. Damals waren wir nicht, wie heuer von Kapstadt mit dem Flugzeug in fünf Stunden in die Antarktis gelangt, sondern in einer zehntägigen Schiffsreise von Ushuaia, am Südzipfel Argentiniens, durch eines der stürmischsten Seegebiete der Erde. Beim Flug mit dem Hubschrauber vom Schiff zur Station sah man von der Station so gut wie nichts, ein paar Ausstiegs- und Belüftungsschächte, kleine, schwarze Punkte auf der ansonsten weißen Schneeoberfläche, und ich dachte: "Dieses bisschen Fliegendreck soll nun für 15 Monate meine Heimat sein?"

Die neue Station Neumayer III (links) und die alte Station Neumayer I alias GvN (rechts).
Fotos: Elisabeth Schlosser

Pinguine und Weltraumgärtner

Die beiden ersten Stationen wurden vom Druck des Eises langsam zerquetscht und mussten nach elf beziehungsweise 17 Jahren aufgegeben werden. Neumayer III wurde 2009 in Betrieb genommen und soll etwa 30 Jahre "leben". Sie bietet im Sommer Platz für knapp 50 Personen. Im Winter arbeiten dort jedoch – genau wie in den beiden Vorgängerstationen – nur neun Leute: vier Wissenschafter, ein Arzt, ein Koch, ein Funker/IT-Spezialist und zwei Techniker. Bevor wir kamen, stimmte hier die männliche Form: Frauen waren nicht zugelassen. 1990 überwinterte ich in einem reinen Frauenteam, seit 1996 sind gemischte Teams üblich. Heuer gibt es außertourlich einen zehnten Überwinterer, kurz Üwi genannt, einen Raumfahrtingenieur, der das Projekt "Eden" durchführt, das in einem autarken System ohne Erde frischen Salat für Astronauten beziehungsweise in diesem Fall Üwis produzieren soll.

Während die GvN-Station 1990 mehr oder weniger ein reines Langzeitobservatorium darstellte, befindet sich nun im Sommer ein internationales Forscherteam auf der Station. Heuer waren zehn verschiedene Nationen anwesend. Das geophysikalische Observatorium, an dem seismische und magnetische Messungen durchgeführt werden, und das meteorologische Observatorium mit Luftchemielabor werden natürlich weitergeführt, denn gerade in der Klimaforschung sind Langzeitmessungen unabdinglich, aber daneben gibt es verschiedenste Sommerprojekte.

Ein französisch-deutsches Team von Pinguinforschern etwa untersucht die Kaiserpinguinkolonie in der Atka-Bucht, die schon seit Jahrzehnten bekannt ist, aber erst jetzt im Detail studiert wird. Geschätzte 14.000 (ohne Küken!) von diesen erstaunlichen Vögeln leben in der Kolonie auf dem Meereis der Atka-Bucht und brüten im Hochwinter, während der Polarnacht, bei Temperaturen unter minus 40 Grad und zeitweise schweren Schneestürmen. Neben dem Eden-Team, das von uns scherzhaft "die Weltraumgärtner" getauft wurde, gibt es auch ein Zwei-Personen-Team, das bei allen nur "der Weltfrieden" heißt: Rund um die Station sind Infraschallmessgeräte angeordnet, mit deren Hilfe man die Einhaltung des Atombombenteststopps weltweit überwachen kann – zusätzlich werden seismische Messungen zur Detektion von unterirdischen Tests eingesetzt.

Ein Adélie-Pinguin scheint sich für das Eden-Projekt zu interessieren.
Foto: Elisabeth Schlosser

Kilometerlange Eisbohrkerne

Aber zurück zur Überwinterung: Auch wenn damals keine speziellen wissenschaftlichen Projekte durchgeführt wurden, ist es nicht zuletzt der Initiative von Innsbrucker Üwis zu verdanken, dass 1981 eine Messreihe gestartet wurde, die bis heute in der Antarktis einzigartig ist und auf der meine jetzige Forschung aufbaut: Nach jedem Schneefall nahmen die Üwis Neuschneeproben, an denen später im Labor die sogenannten Isotopenverhältnisse des Wasserstoffes und des Sauerstoffs bestimmt wurden.

Was ist das und wofür braucht man das? Isotope sind verschiedene "Sorten" desselben Stoffes, zum Beispiel gibt es neben dem "normalen" Sauerstoff O16, den wir alle aus dem Chemieunterricht in der Schule kennen, auch noch die schwereren Isotope O17 und O18, die nur sehr selten vorkommen. Da das Verhältnis dieser Isotope temperaturabhängig ist, kann man es dazu benutzen, Temperaturen der Vergangenheit abzuleiten, wenn man entsprechend alten Schnee beziehungsweise Eis aus der Vergangenheit beprobt. Üblicherweise werden dazu sogenannte Eisbohrkerne aus dem Eis der Antarktis und Grönlands gezogen. Diese Kerne haben einen Durchmesser von etwa zehn Zentimeter, sind bis zu drei Kilometer lang, und das älteste bisher erbohrte Eis ist 800.000 Jahre alt.

In Eis gespeichterte Klimageschichte

Es ist ein beträchtlicher logistischer und finanzieller Aufwand, so einen polaren Eiskern zu erbohren, aber der Aufwand lohnt sich: In diesem Eis ist die Klimageschichte der Erde gespeichert. Kein anderes Klimaarchiv gibt uns so genaue Auskunft, auch über die frühere Zusammensetzung der Atmosphäre, die in den winzigen Luftbläschen im Eis erhalten geblieben ist. Der derzeit beobachtete Klimawandel und die weiter zu erwartende Erwärmung der Erdatmosphäre erregen weltweit Besorgnis und werfen viele Fragen auf. Bevor wir aber das zukünftige Klima wirklich beurteilen können, müssen wir zunächst einmal das jetzige Klimasystem vollständig verstanden haben. Der Schlüssel zu diesem Verständnis liegt im Klima der Vergangenheit. Daher ist jeder Cent, der in eine Eisbohrung gesteckt wird, mehr als gerechtfertigt.

Um die frühere Temperatur aus dem Isotopenverhältnis des Eises berechnen zu können, muss man die komplexen Prozesse genau verstehen, die bei der Bildung des Eises, also beim Schneefall, aber auch während niederschlagsfreier Perioden eine Rolle spielen.

Neben High-Tech-Instrumenten kommen auch Brechstange und Vorschlaghammer zum Einsatz
Fotos: Elisabeth Schlosser

Schneedaten sammeln

In meinem vom österreichischen Forschungsfonds (FWF) geförderten Projekt interessiere ich mich vor allem für diese Prozesse in den niederschlagsfreien Perioden. Anders als vor drei Jahrzehnten, als man ein großes Labor mit einem Massenspektrometer benötigte, um die Isotopenverhältnisse zu bestimmen, gibt es heute handlichere, feldtaugliche Geräte, mit denen man nicht nur Schneeproben untersuchen, sondern auch kontinuierlich das Isotopenverhältnis des Wasserdampfes messen kann. Ein solches Messgerät befindet sich nun in der Neumayer-Station. Der Wasserdampf wird natürlich, genau wie der spätere Schneefall, von den atmosphärischen Verhältnissen in der Umgebung beeinflusst. Neumayer ist hier ein idealer Untersuchungsort, da für die Station ein umfangreicher Datensatz sämtlicher meteorologischer Größen wie zum Beispiel Temperatur, Luftfeuchte, Windrichtung und -geschwindigkeit et cetera zur Verfügung steht.

Neben diesen hochtechnisierten Messungen führe ich ein umfangreiches Schneeprobennahmeprogramm durch. Die Schneedaten werden dann mit den Wasserdampfdaten und den meteorologischen Daten in Verbindung gebracht. Zusammen mit meinen Projektpartnern in Deutschland, Frankreich und den USA werden wir so an einer genaueren Temperaturinterpretation der Eisbohrkerne arbeiten.

Die heutige und die alte Schneeschmelze
Fotos: l.: Thomas Steuer, r.: Elisabeth Schlosser

Was sich in 30 Jahren verändert hat

Das Alltagsleben auf der Station hat sich geändert. Vieles ist leichter geworden, bequemer, aber auch irgendwie weniger "antarktisch". Wo es früher nur Kurzwellenfunk gab, um mit der Welt in Verbindung zu bleiben, gibt es nun Internet. Das hat Vor-, aber auch Nachteile. Ein weiteres Beispiel für eine große Änderung ist die Wasseraufbereitung. Da es an Neumayer weder Flüsse, noch Seen, noch Grundwasser gibt, muss alles Wasser, das gebraucht wird, aus Schnee geschmolzen werden. Neumayer I und II hatten dazu einen Metallzylinder von circa 80 Zentimeter Durchmesser, in den oben an der Schneeoberfläche Schnee händisch hineingeschaufelt wurde, der dann zehn Meter tiefer in einem kleinen Reservoir mittels Heizstäben geschmolzen wurde. Das war harte Knochenarbeit, vor allem wenn der Schnee im Winter bockhart gefroren war oder man den Deckel der Schneeschmelze erstmal unter einem Meter Schnee ausgraben musste. Man lernte, jeden Tropfen, der aus dem Wasserhahn kam, wirklich zu schätzen. Wäsche waschen durfte nur derjenige, der an diesem Tag Schaufeldienst hatte, und geduscht wurde selten länger als drei Minuten. Heute wird ein großes Schmelzreservoir zweimal täglich mittels Pistenbully befüllt, man kann duschen, solange man will, und die beiden Waschmaschinen laufen fast den ganzen Tag.

Kaiserpinguine vor einem kleineren Eisberg in der Atka-Bucht.
Foto: Elisabeth Schlosser

Was jedoch unverändert ist, ist die Antarktis selber. Für mich ist es ein besonderes Erlebnis, nach mehr als einem Vierteljahrhundert wieder in der fantastischen Natur der Antarktis zu sein, wenn auch diesmal nur für einen Sommer. Nicht umsonst habe ich mich für ein naturwissenschaftliches Studium entschieden. Die Natur gibt mir Begeisterung und Motivation für meine Arbeit und weckt meine wissenschaftliche Neugierde. Ich fühle mich privilegiert, an einem solchen Ort arbeiten zu dürfen. Die Faszination, die von diesem kalten, einsamen, aber doch unbeschreiblich schönen Kontinent ausgeht, die Begeisterung für das Licht, die unglaublichen Farben des Himmels, des Eises und des Meeres werden mich wohl nie verlassen. Ich versuche, diese Faszination denjenigen, die nie die Chance haben werden, in die Antarktis zu reisen, zu vermitteln, damit nicht in Frage gestellt wird, dass eines der letzten mehr oder weniger unberührten Naturparadiese der Erde für immer geschützt werden muss. (Elisabeth Schlosser, 11.5.2018)

Bildquelle

  • Alfred-Wegener-Institut/Thomas Steuer

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