Es ist wieder einmal Hochsaison: Zum einen steht die schriftliche Zentralmatura im Fach Mathematik am 9. Mai vor der Tür, zum anderen häufen sich die Anfragen von Nachhilfe-Neukunden für ein und dieselbe Schulstufe: für die 5. Klasse AHS-Oberstufe. Eigentlich nichts besonderes, könnte man meinen. Für mich ist das schon lang kein Zufall mehr, ich sehe da einen Zusammenhang.

Mehr als die Hälfte des Schuljahres lang haben Fünftklässler versucht, mit dem Stoff zurechtzukommen, um aus eigener Kraft eine positive Leistung abzuliefern. Die eigentliche Herausforderung sind aber in all diesen Fällen nicht die linearen oder quadratischen Funktionen, Sinus oder Cosinus, sondern die durch die standardisierte Reifeprüfung eingeführten Antwortformate, die – Gott sei dank – nicht erst bei der Matura, sondern bereits vier Jahre davor für die Schüler spürbare Realität werden.

Dadurch hat sich nicht nur mein Nachhilfeunterricht aktiv ändern müssen, sondern auch die Fragen, wer wann und aus welchen Gründen plötzlich Nachhilfe braucht. Früher wurde eher von Schularbeit zu Schularbeit gelernt und das klassische Üben stand im Vordergrund. Heute sehe ich, dass die "große Mitte" der Schüler und Schülerinnen zu mir kommt, also auch jene, die vorher keine Probleme hatten und einfach am neuen System verzweifeln. Und mit ihnen die Eltern.

Der große Unterschied von AHS und BHS
 
Zurück zu den Anfragen: Typischerweise rufen die Unterstützung und Rat suchenden Mütter an und verweisen auf Seiten der Kinder auf gute und ordentliche Noten aus vier Jahren Unterstufe. Woher käme dann der abrupte Abfall und ein Nicht Genügend nach dem anderen, obwohl das Kind ja übe, motiviert sei und eigentlich den Stoff beherrsche?
 
Von welchem Schultypus spreche ich hier? Natürlich von der AHS. Ich habe ein Vielfaches mehr Schüler aus der AHS als aus der BHS. Und das schon seit vielen Jahren. Warum? BHS-Schüler kommen entweder zu Beginn ihrer Oberstufe, weil sie oft von Neuen Mittelschulen gewechselt sind und mit den steigenden Anforderungen erst klarkommen müssen, oder am Ende ihrer Oberstufenzeit zwecks Vorbereitung auf die Matura.
Gänzlich anders hat sich die Situation mit AHS Schülern entwickelt: Seit der Umstellung der Schularbeiten –  beginnend mit der 5. Klasse – auf das Zentralmatura-Design vor einigen Jahren, gab es mehr und mehr Bedarf, einen Nachhilfelehrer aufzusuchen. Immer noch Zufall?

Besonders AHS-Schüler brauchen Mathe-Nachhilfe.
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Ich wurde in Forenpostings bei meinen früheren Texten einige Male darauf angesprochen, warum ich immer nur über die AHS schreibe, obwohl es ja mehr BHS-Maturanten gäbe. Dies möchte ich jetzt beantworten: Weil es keinen Grund gibt, darüber zu schreiben. Wie oben angeführt, habe ich äußerst wenig Schüler aus der BHS, was wiederum mit der niedrigen Nachfrage zusammenhängt. Und dies hängt meines Erachtens rein damit zusammen, dass sich faktisch nichts am Mathematik-Unterricht an der BHS und vor allem äußerst wenig in der abschließenden Matura geändert hat, weshalb kein vorzeitiges "Herumreißen" des Steuers zu Beginn der BHS notwendig erscheint.

Opfer des Systems

Zurück also zu den Müttern, deren rund 15 Jahre alten Kinder endlich eine positive Note benötigen. Wie erkläre ich ihnen die Situation, dass ihre Kinder wahrscheinlich vollkommen okay sind, aber Opfer des neuen Systems geworden sind? Wo früher ein bisschen Wissen für einen knappen Vierer ausgereicht hat, brauchen unsere AHS-Oberstufenschüler ein 360-Grad-Verständnis für jedes noch so kleine Stoffgebiet, weil die neuen Antwortformate 100 Prozent exaktes Wissen einfordern. Wer also im ersten Teil jeder Schularbeit (Grundkompetenzen) immer wieder eine "Kleinigkeit" falsch ankreuzt, verliert schlagartig sämtliche Blockpunkte (= nur volle Punktezahl bei 100 prozentiger Beantwortung aller Teilfragen). Daher kein Wunder: Ein Nicht genügend nach dem anderen. Aber er oder sie kenne sich ja eh aus, so die Eltern. Das reicht heute nicht mehr!

Dass wir Nachhilfelehrer System-Schule-Erhalter sind, ist hinlänglich bekannt. Dass aber eine neue, standardisierte Reifeprüfung –  mit hehren Zielen wie Vergleichbarkeit und Transparenz – die Schwächen unseres Schulsystems derartig aufzeigt und prolongiert, ist doch ein Griff daneben.
Die besagten Mütter teilen mir ja auch mit, dass sie im Kontakt mit den Lehrern stehen. Diese meinten oft, dass das Niveau der Klasse niedrig sei und dass er oder sie ja im Stoff weitermachen müsse. Das ist ein klarer Fall: Wo früher schon drei Mathestunden in der Woche nicht wirklich ausreichend waren – für Unterrichten, Üben und Festigen –, soll jetzt zusätzlich auch noch das Verständnis trainiert werden. Wer glaubt, dass teure Taschenrechner und die Software GeoGebra Zeitersparnis bewirken, irrt. Der Rechenweg "müsse ja beherrscht werden", so der überwiegende Tenor der Lehrer.

Zu wenig Zeit
 
Wer also als Lehrer im Stoff vorwärtskommen möchte, kann nicht gleichzeitig Fragen beantworten und jedes Stoffgebiet von allen Seiten analysieren, denn geschweige üben und festigen. Das gymnasiale System ist nun mal nicht darauf ausgelegt, extra Unterricht oder ernst gemeinte Förderung anzubieten. Kurzum: Der Bedarf wäre da, Wille und Geld zur Veränderung der Rahmenbedingungen aber nicht.

Vielleicht kann man sich das so vorstellen: Ein Kind trainiert in einem Fußballverein und hat jedes Wochenende ein Pflichtspiel, wo die volle Leistung gebracht werden muss. Jetzt bietet der Verein aber nur drei Trainingstermine pro Woche an. Die meisten gegnerischen Mannschaften trainieren hingegen fünf Mal die Woche und zeigen den anderen immer wieder "wo der Hammer hängt". Schließen wir daraus, dass die drei angebotenen Trainingseinheiten qualitativ schlecht sind und der Coach vielleicht nicht so gut bei den Kids ankommt? Oder einfach nur, dass drei wöchentliche Trainings im Verhältnis zur geforderten Leistung einfach zu wenig sind?
 
Wenn ich Schularbeiten aus der AHS-Oberstufe zu Gesicht bekomme, dann ist es mir oft schleierhaft, wann denn all diese Verständnisfragen im Unterricht hätten beantwortet werden sollen. Wahrscheinlich reicht ja ein bisschen logisches Denken! Und falls Ihr Kind, lieber Leser und liebe Leserin, das von Natur aus mitbringt, dann kann ja nichts mehr schiefgehen. Was für ein Trost! (Rainer Saurugg, 7.5.2018)

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