Millionen Schreibtische können nicht irren. Das Post-it ist aus dem Büroalltag nicht mehr wegzudenken. Bei manchen gilt das auch für private Gefilde.

Foto: Lukas Friesenbichler, Set-Design: Magdalena Rawicka

Diese Geschichte erschien im Rahmen eines Schwerpunkts im RONDO zum Thema (Un-)Ordnung.

Foto: Lukas Friesenbichler

Neben meinem Sofa hängt ein gerahmtes Foto von Ernest Hemingway. Er sitzt mit Brille und weißem Bart an einem Tisch aus dunklem Holz und notiert sich Gedanken in ein Schreibheft. Auch ich besitze Schreibhefte, einen ganzen Stapel davon. Ihre Seiten sind leer, denn ich schreibe meine Notate auf Post-its.

Am liebsten mit einem gut gespitzten Bleistift. Angeblich zog auch Hemingway den Bleistift dem Füller vor. Das wäre es allerdings schon mit den Gemeinsamkeiten. Während er in seinen Romanen vom Fischen, vom Brüllen der Löwen, von der Liebe, von der Tapferkeit und vom Krieg erzählt, schreibe ich über die kleinen Dinge des Lebens, zum Beispiel über Post-its, ohne die ich nicht sein kann.

Mein Alltag ist umzingelt von den gelben Zettelchen, sie picken auf meinem Schreibtisch, in der Redaktion wie zu Hause, sie kleben an meinen Bildschirmen, sogar auf ihnen, an meinen Fenstern, sie tauchen auf der Wohnungstüre auf, in Büchern und manchmal sogar auf meinem Telefon.

Analoge Postings

Manche picken platt und brav, andere bäumen sich widerspenstig auf. Mitunter find ich das kleine gelbe Quadrat zernudelt in meinem Hosensack. Post-its, auch Klebe-, Haftzetteloder Hafties genannt, sind in meinem Fall eine Art papierne Mäuseplage. Die Seiten des Post-it-Blocks sind kein Tagebuch, sie bilden ein offenes Buch, von jedermann einsehbar, weil omnipräsent herumpickend.

Ich kritzle alles auf Post-its: Termine, Interviewfragen, große und kleine Ideen, Nachrichten an meinen Sohn, das eine oder andere Zitat, Telefonnummern, Erinnerungen, Entwürfe oder Dinge, die in meinem Haushalt fehlen. Aktuell sind dies Küchenrollen, Rasierklingen und Muskatnuss. Sind die Erledigungen besorgt, wird nichts ausgestrichen, To-do-Listen sind etwas für Zwängler. Ein Post-it, das Kleenex der Schreibwarenwelt, verschwindet einfach. Es steht für die flatterhafte, flexible und mobile Variante der Organisation. Post-its sind analoge Postings von mir an mich.

Im Unterschied zum Notizbuch schrumpft der gelbe Block Seite für Seite, bis er sich mit seinem letzten Blatt in ein Nichts auflöst. So wird das Blöckchen ganz nebenbei zu einem kleinen Symbol für die Vergänglichkeit.

Kirchenchor

Von den Hafties gibt es mittlerweile hunderte Produktvarianten von verschiedensten Herstellern. Dabei ist die Erfindung des Post-its eine holprige Geschichte. Ein Mitarbeiter des US-Unternehmens 3M, er heißt Spencer Silver, war Ende der 1960er-Jahre mit der Entwicklung eines Superklebers beschäftigt, der zwar auf vielen Oberflächen pickte, aber sich viel zu leicht ablösen ließ, um ihn in ein erfolgreiches Produkt verwandeln zu können. Vorerst.

Jahre später ärgerte sich angeblich Arthur Fry, ein Kollege Silvers, darüber, dass ihm beim Singen im Kirchenchor immer wieder seine Lesezeichen aus den Notenheften fielen. Er erinnerte sich an den Kleber seines Kollegen, die Geburtsstunde des Post-its war da. Auch wenn es vielleicht anders war, die Geschichte klingt nicht nur für die Marketingabteilung gut.

Inzwischen reihte die US-Zeitschrift "Fortune" den Klebezettel völlig verdient in die wichtigsten Erfindungen des 20. Jahrhunderts ein, darunter sind immerhin der Kühlschrank und die CD zu finden. Millionen Schreibtische in aller Welt können nicht irren. Unter der Bezeichnung "Post-it war" ist sogar eine eigene Kunstgattung entstanden, bei der rund um den Globus gepickt wird, was der Zettel hält.

Die Urmutter des Post-its, das 1980 von 3M auf den Markt gebracht wurde, hat eine Größe von 76 × 76 mm. Das ist auch mein bevorzugtes Format, am liebsten in der würfeligen 450-Blatt-Variante. Die ergibt Platz für 2.599.200 Quadratmillimeter mehr oder weniger wichtiges Gedankengut.

Wie Scheuermilch

Außerdem präferiere ich das charakteristische Gelb des Papiers, es wird Kanariengelb genannt. Das zum Vorbild gewählte Tier scheint mir allerdings ein blasses Vögelchen gewesen zu sein. Mich erinnert die Farbe eher an die Scheuermilch von Cif.

Bestimmt gäbe es bessere Methoden, seinem Alltag Struktur zu verleihen, als mit Post-its, die ohne chronologische Struktur durch mein Leben wuseln. Meine Banknachbarin in der Redaktionsstube, sie schreibt über Mode, kommt ganz wunderbar mit einem Stehkalender über die Runden. Neidisch schiele ich manchmal auf ihre Wochenplanung.

Dabei stellt mir unsere Sekretärin jedes Jahr nach den Weihnachtsfeiertagen einen neuen Kalender auf den Schreibtisch – verlorene Liebesmüh. Ein anderer Kollege, er beschäftigt sich mit Architektur, druckt Woche für Woche einen Plan aus und markiert mit verschiedenen Leuchtstiften die jeweiligen Termine nach Wichtigkeit und Zeitaufwand.

Ich habe diese Methoden redlich versucht, bin jedoch in beiden Fällen bereits nach wenigen Tagen gescheitert und reumütig zu meinem Blöckchen zurückgekehrt. Eines liegt immer irgendwo in Griffweite. Und der elektronische Kalender? Kommt allein schon wegen seiner Bleistiftunverträglichkeit nicht infrage.

Eventuell gibt es noch eine andere Erklärung für meine Leidenschaft: Vielleicht möchte ich mithilfe des gelben Papiers dem Alltag ein paar Kilo seiner Schwere nehmen und den Dingen des Lebens die Leichtigkeit eines kleinen Zettelchens verleihen, schließlich schreibe ich weder über den Krieg, noch über die Tapferkeit, die Liebe oder die Jagd. Mich würde eher ein Text über Streichhölzer reizen. Und Büroklammern. (Michael Hausenblas, RONDO, 11.6.2018)

Weiterlesen:

Wie man den Aufräumcoach zum Verzweifeln bringt

Psychiater August Ruhs: "Aufräumen ist triebfeindlicher als Kochen"

Ordnung in der Küche: Unmöglich?