Diese Geschichte erschien im Rahmen eines Schwerpunkts im RONDO zum Thema (Un-)Ordnung.

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Foto: Lukas Friesenbichler

STANDARD: Putzen Sie selbst?

August Ruhs: Relativ selten.

STANDARD: Also nur, wenn Ihnen etwas runterfällt oder Sie etwas ausschütten?

Ruhs: Zum Beispiel. Ansonsten ist es eher eine Verlegenheitstätigkeit, wenn ich einer anderen Arbeit aus dem Weg gehen möchte. Das führt bei vielen zu einer Art Scheingefügigkeit. Das heißt, "man ist eh ordentlich und brav, aber das, was man tun sollte, macht man nicht". Manche schummeln sich am schlechten Gewissen vorbei.

STANDARD: Ist dieses Verhalten verwandt mit dem Typus, der den Dreck lieber unter den Teppich kehrt, als ihn richtig wegzumachen?

Ruhs: Sie meinen "außen hui, innen pfui"? Das kann durchaus miteinander verwandt sein. Jemand, der Ordnung vortäuscht, ist jemand, der für andere als ordentlich dastehen möchte. Der echte Reinlichkeitsfanatiker putzt mit Leib und Seele. Dem ist die Meinung der anderen egal. Sein Über-Ich ist so streng, dass er die Konflikte mit sich selbst austrägt.

STANDARD: Es gibt angeblich nicht wenige Zeitgenossen, die aufräumen, bevor die Putzfrau kommt. Was sagt der Analytiker dazu?

Ruhs: Meine Frau neigt auch dazu. (lacht) Es ist so: Wie bei allem im Leben sind die Motive sehr verschieden. Es könnte die Beruhigung des Schuldgefühls sein, weil man andere für sich saubermachen lässt. In diesem Fall kommt hinzu, dass es sich um eine Tätigkeit handelt, die man selber nicht machen möchte. Vielleicht will man auch nur das Bild einer ordentlichen Person abgeben.

STANDARD: Und holt sich dann eine Putzfrau. Das klingt sehr widersprüchlich, oder?

Ruhs: Ach, wissen Sie, wir tun in unserem Leben so viele widersprüchliche Dinge.

STANDARD: Apropos: Kann eine Beziehung zwischen einem überordentlichen Menschen und einem Schlampertatsch gutgehen? Oder gibt's sogar Ergänzungspotenzial?

Ruhs: Das hängt vom Typus der Objektwahl ab, Sigmund Freud hat ja zwei Typen der Objektwahlen beschrieben, den narzisstischen Typ und den Anlehnungstyp. Der narzisstisch Strukturierte sucht sich seine Sozial- und Liebesbeziehungen nach dem Prinzip "Gleich und gleich gesellt sich gern" aus. Er neigt dazu, sich selbst im anderen zu sehen, oder sieht im anderen jemanden, der so ist, wie er selber gern wäre usw. Der andere Typ neigt zum Prinzip "Gegensätze ziehen sich an". Freud spricht von einem Anlehnungstyp, weil sich die Sexualtriebe an die Nützlichkeits- und Ich-Triebe anheften.

STANDARD: Der ordentliche Anlehnungstyp passt also besser zum Schlampertatsch?

Ruhs: Genau! So wie eine Krankenschwester nicht ungern eine Beziehung mit einem leidenden Menschen eingeht. Das würde der narzisstisch Strukturierte nicht ertragen.

STANDARD: Ab wann ist denn jemand ordentlich bzw. unordentlich?

Ruhs: Es ist ein weites Spektrum zwischen übertriebener Ordnung, Pedanterie und Verwahrlosungstendenzen. Dazwischen ist jemand, der zwischen der Lust an der Unordnung und der Freude an der Ordnung ein einigermaßen ausgeglichenes Verhältnis hat.

STANDARD: Ihr Schreibtisch hier in Ihrer Praxis sieht einigermaßen aufgeräumt aus. Es gibt Psychologen, die sagen, vollgeräumte Schreibtische würden die Kreativität stärken. Stimmen Sie dem zu?

Ruhs: Das trifft auf bestimmte Tätigkeiten zu, für die ein starres Ordnungsprinzip eher kreativitätshemmend ist. Ein Poet wird wahrscheinlich eher ein unaufgeräumtes Zimmer haben, weil die Welt für ihn etwas Weiträumiges und Unordentliches ist. Denken Sie an das Arbeitszimmer von Friedericke Mayröcker. Der Poet entfernt sich von den üblichen Ordnungsprinzipien. Dadurch unterscheidet er sich vom Beamten oder vielleicht auch vom Wissenschafter, für den die Welt etwas Geordnetes sein soll. Wenn sie es nicht ist, wird sie zu einer Ordnung gezwungen. Das spiegelt sich auch im Ambiente wider.

Foto: Lukas Friesenbichler, Set-Design: Magdalena Rawicka

STANDARD: Wie ist das mit den Geschlechtern? Sind Frauen ordentlicher als Männer?

Ruhs: Die meisten allgemeinen Aussagen über Menschen beruhen auf einer ungerechtfertigten Verallgemeinerung. Wenn man in Bezug auf Ordnung sagt, die Menschen neigen hierzu oder dazu, dann ist das wie in anderen Lebensbereichen einfach nicht korrekt. Es gibt feminine Männer und maskuline Frauen. Es gibt Hysteriker, Zwangsneurotiker, Depressive und Schizoide. Alle reagieren auf denselben Sachverhalt verschieden. Deshalb muss man sich insbesondere als Psychoanalytiker immer gegen solche Verallgemeinerungen wehren.

STANDARD: Die deutsche Philosophin Nicole Karafyllis, die ein Buch mit dem Titel "Putzen als Passion" schrieb, meinte, Schmutz sei etwas, das die meisten Kulturen als etwas beschreiben, das nicht zu uns gehört, als etwas, das die Ordnung stört, die wir uns wünschen. Ist das auch eine Verallgemeinerung?

Ruhs: Der Umgang mit Schmutz und Abfall, also mit allem, was die menschliche kulturelle Ordnung stört, kann allerdings in vielen Fällen dazu führen, dass man diesen Rest an Ordnungswidrigem nicht selbst bereinigt, sondern von jemand anderem entsorgen lässt oder das eigene Schmutzige auf jemand anderen projiziert.

STANDARD: Sie meinen das politisch.

Ruhs: Ja, natürlich. Man sagt gerne: "Ich bin ordentlich, und der Fremde, der nicht zu meiner gesellschaftlichen Gruppe gehört, ist unkultiviert, unordentlich und schmutzig." Teile des Antisemitismus und des Fremdenhasses beruhen auf solchen Projektionen von Unordentlichkeit. Deshalb sprechen die, die am meisten darauf bedacht sind, dass eine gesellschaftliche starre Ordnung aufrechterhalten bleibt – also hauptsächlich die Rechten – so gern von ordentlichen und sauberen Menschen. Die Fremden bezeichnen sie als schmutzige Leute, die uns mit ihrem Grillgeruch im Hinterhof belästigen usw. Da fällt mir Robert Musil ein, der einmal schrieb: "Irgendwie geht Ordnung in Totschlag über."

STANDARD: Apropos Grillgeruch: Warum hat das Putzen im Verhältnis zum Kochen ein schlechteres Image? Beides sind Notwendigkeiten des Alltags.

Ruhs: Ich denke, das Kochen ist an einen gewissen Kreativitätsaspekt gebunden. Beim Kochen wird etwas geschaffen, was der Befriedigung eines primären Triebes entspricht. Beim Aufräumen und Putzen ist dieser Aspekt nicht so ausgeprägt. Es handelt sich zwar auch um eine sogenannte Kulturarbeit, die aber mit weniger Lust verbunden ist, als dies bei der Nahrungszubereitung der Fall ist. Sagen wir es so: Das eine ist triebfreundlicher, das andere triebfeindlicher. Ordentlich sein ist triebfeindlicher. Freud sagte in dieser Hinsicht: "Kultur ist Triebverzicht", und sprach dabei von einem Unbehagen in der Kultur. Kulturarbeit ist daher anstrengend, aber es gibt Bereiche, die lustbetonter sind als andere.

STANDARD: War Freud ein ordentlicher Mensch?

Ruhs: Ich glaube, er pflegte ein Mittelmaß, hatte aber auch die Züge eines pedantischen Wissenschafters. Er war ein sehr klarer und systematischer Denker. Andererseits sprach er im Zusammenhang mit seiner Statuensammlung von seinen "alten und dreckigen" Göttern. Da gab es schon auch einen irrationalen Bereich, den er sich offenließ. Er war mehr zwanghaft denn hysterisch und eher dem Intellekt als dem Sinnlichen zugeneigt.

STANDARD: Sind Sie ein ordentlicher Mensch?

Ruhs: Mein Schreibtisch ist eher mittelmäßig ordentlich, wie Sie sehen. Ich neige nicht dazu, mich auf Haltungen oder einen Stil zu fixieren. Ich versuche, von allem ein bisschen etwas zu haben, um auch alles ein bisschen besser zu verstehen. Bei der Sprache versuche ich allerdings, möglichst ordentlich zu sein. Ich mag keine Sprachungenauigkeiten, wie sie derzeit so stark vorherrschen. (Michael Hausenblas, RONDO, 11.5.2018)

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