Rudi Weissensteins Enkel, Ben Peter, führt den Fotoladen weiter.

Foto: Lissi Kaufmann

Der Laden wurde zum Archiv der Staatsgründung Israels.

Foto: Lissi Kaufmann

Ein Selbstporträt Rudi Weissensteins war die Vorlage für den 10-Lirot-Schein.

Foto: Lissi Kaufmann

Postkarten, Glasuntersätzer und Stoffbeutel sind neu im Sortiment.

Foto: Lissi Kaufmann

Am Nachmittag des 14. Mai 1948 tritt David Ben-Gurion, ein kleiner Mann in Sakko und Krawatte mit wuscheligen weißen Haaren, in einem Saal des Tel Aviver Kunstmuseums auf dem Rothschild-Boulevard vor die Mikrofone. Es ist 16 Uhr, in wenigen Stunden wird das britische Mandat über Palästina enden.

Auch Rudi Weissenstein ist hier. Er hält seine Kamera in der Hand, wartet auf den Moment – und drückt den Auslöser. Er hält fest, wie David Ben-Gurion, ein paar knittrige DIN-A4-Blätter in der Hand, die Errichtung des Staates Israel verkündet. Über ihm hängt das Bild von Theodor Herzl, dem Begründer des Zionismus, der noch 42 Jahre zuvor für seine Idee vom jüdischen Staat als Spinner gegolten hat.

Weissensteins Bild von diesem kleinen Wunder der Staatsgründung wird weit über die Grenzen des neuen Staates bekannt. Und es steht noch heute, 70 Jahre später, eingerahmt im Photohouse Prior in Tel Aviv. Einst verkaufte hier Weissenstein seine Werke, entwickelte im Labor die Bilder, schoss Porträtfotos im Studio, auch vom jungen Shimon Peres, der später Staatspräsident wurde, von Jitzchak Rabin, der als Premierminister 39 Jahre später ermordet wurde, von Golda Meir, der ersten und bisher einzigen Premierministerin Israels.

Archiv übernommen

Heute steht Weissensteins Enkel Ben Peter an seiner Stelle. Ein großer, schlanker Mann mit leicht angegrauten, dunklen Haaren und Dreitagebart, 41 Jahre alt. Er hat aus dem Laden eine Art Museum, Fotoausstellung und Souvenirladen in einem gemacht und verwaltet das Erbe seines Großvaters: wohl eines der größten, am besten erhaltenen Fotoarchive des Landes, das rund eine Million Negative zählt.

"Ein Archiv anzulegen, das war der Plan meines Großvaters, als er 1936 hier ankam", erzählt Ben Peter. Sein Handwerk hatte der 1910 in Iglau in Böhmen geborene Shimon Rudolph Weissenstein in Wien an der grafischen Lehr- und Versuchsanstalt gelernt. Von dem Moment an, als er mit 26 Jahren und nichts als einer Kamera in Jaffa von Bord des Schiffes geht, legt er los: Er bereist das Land von der Negevwüste im Süden bis nach Galiläa im Norden, von der Küste bis nach Jerusalem im Osten.

Negative aufbehalten

Ein Großteil der Bilder befindet sich heute in einem alten Holzschrank im hinteren Teil des Ladens. Ben Peter zieht ganz oben links eine der vielen kleinen, nummerierten Schubladen heraus, hält sie mit beiden Händen fest. "Die ist ziemlich schwer, am Anfang hat er noch Glas für die Negative benutzt", sagt er. Es sind die allerersten Aufnahmen von Weissenstein aus Israel. "Ausgerechnet das erste Bild fehlt. Aber hier das zweite, Nummer 1002, ist da." Mit Daumen und Zeigefinger nimmt er das gläserne, handflächengroße Negativ aus einem Tütchen aus Pergamentpapier und hält es ins Licht der Neonröhre: Zu erkennen ist eine Frau, die mit einem Pferd vor dem Pflug den Acker bearbeitet.

Die meisten der Bilder von Rudi Weissenstein erzählen vom Aufbau dieses Staates, von Menschen, die fest an diese zionistische Idee glaubten, die auf den Feldern arbeiteten und neue Dörfer gründeten und dieser auf Sand gebauten Stadt, Tel Aviv, Leben einhauchten: in Cafés, bei Konzerten, am Strand und in den Straßen. Es ist der Blick eines Zionisten, der ein starkes, ein fröhliches Land abbildet – Armut, Krieg, Vertreibung haben darin keinen Platz. Und das, obwohl bereits wenige Stunden nach der Staatsgründung arabische Nachbarstaaten Israel angreifen – und obwohl tausende arabische Einwohner flohen, teilweise vertrieben wurden.

Vorlage für Geldscheine

"Mein Großvater war ein Träumer", erklärt Ben Peter. "Er hat eine Utopie geschaffen. Da er auch von der zionistischen Industrie angeheuert wurde, musste er manchmal Bilder machen, die als PR-Material dienten." Weissen stein erstellte jene Porträts, die als Vorlage für die Zeichnungen dienten, die auf die neuen Geldscheine gedruckt wurden: Der 50-Lirot-Schein zeigte ein junges Paar vor einer kleinen Siedlung, wohl einem Kibbuz, in bergiger Landschaft – zwei Pioniere mit entschlossenen Blicken. Ein muskulöser Arbeiter mit Schiebermütze, die Ärmel hochgekrempelt und die Harke über die Schulter geschwungen, vor einer Fabrik stehend, ziert den Fünf-Lirot-Schein. Ein Mann im Versuchslabor ist auf dem Zehner abgebildet. "Das ist Rudi selbst. Der Wissenschafter ist damals nicht zum Fototermin erschienen, dann hat mein Großvater kurzerhand ein Selbstporträt geschossen", sagt Ben Peter. Die Scheine hat er unter die Glasplatte eines der Tische im Laden geklemmt.

Ganz verschlossen habe sein Großvater die Augen vor den Schattenseiten nicht, erzählt Ben Peter. Es gäbe noch ein paar kritische, weniger idyllische Motive in jenem Teil des Archivs, das der Öffentlichkeit heute weniger bekannt ist, vor allem aus der Zeit des arabischen Aufstandes 1936 bis 1939. "Es sind Bilder von Toten und von rassistischen Graffitis in den Straßen, die sich gegen die Araber richteten."

Ben Peter arbeitet derzeit an einem Projekt, das unter anderem die dunklen Seiten des Archivs zeigen soll. Für ihn ist die Arbeit mit seinem Erbe mehr als nur der Verkauf neuer Fotodrucke. Er hat das Archiv in die Moderne geholt, eine Webseite angelegt, die Motive auf Glasuntersetzer, Postkarten und Stofftaschen gedruckt. Und er ist mit dem Laden von der Allenby- in die Tchernichovsky-Straße umgezogen, nachdem das alte Gebäude abgerissen werden sollte.

Wert für die Geschichte

Außerdem digitalisiert Ben Peter nach und nach die Negative. Heute hilft dabei auch die Nationalbibliothek, die den Wert der Bilder als historisches Material für und von Israel erkannt hat. "Wenn Budget da ist, schicken sie jemanden, der die Bilder digitalisiert. 40.000 haben wir schon auf dem Rechner", sagt Ben Peter. Viel Arbeit liegt noch vor ihnen, um Rudis träumerischen Blick auf Israel zu bewahren. (Lissy Kaufmann, 14.5.2018)