Rainer Langhans wurde seinerzeit festgenommen, weil er ein Puddingattentat auf den US-Vizepräsidenten geplant haben soll. Es waren andere, psychedelischere Zeiten damals im Jahr 1968. Oder doch nicht?

Illustration: Felix Uschi Grütsch

MW: Würdest du sagen, dass du viele Parallelen siehst zwischen dem, was heute im Internet ist und was damals bei euch war?

RL: Ich habe lange – 50 Jahre – gebraucht, bis ich es so sehen konnte, dass damals eine Vorschau auf etwas war, was sich danach postrevolutionär vollzog. Nämlich die Wahrnehmung und die Besiedelung einer neuen Welt. Das ist die erste der uns bekannten Revolutionen, die das vermochte. Diese Vorschau hat uns gezeigt, dass wir dahin gehen und wie das aussieht, wohin wir gehen. Das hat uns eine positive Utopie erleben lassen. Wenn man das einmal gesehen hat, wird man immer wieder dahin streben.

Viele haben versucht, dorthin zu kommen, die Frauenbewegung, die Schwulenbewegung, Techno, Bhagwan; alle haben es nicht geschafft. Das erste Tool, das uns wirklich ein wenig auf diese Vorschau zurück- oder vorwärtsführt, ist eben das Internet. Und im Internet wird uns hoffentlich bald mehr und mehr bewusst, dass wir tatsächlich auf diesem Weg sind und dass wir mindestens so viel, wie uns die Vorschau gezeigt hat, erleben werden.

Den Zeitfaktor kennen wir nicht. Wir dachten ja damals, der Zustand wäre jetzt sofort da und bliebe auch. Wir haben uns darin so getäuscht, dass wir nach 50 Jahren überhaupt erst zu ahnen beginnen, dass wir auf dem Weg dahin sind. Das meine ich bei den ITlern, den Silicon-Valley-Leuten sehr deutlich zu sehen. Die sind ja bekennende 68er, die damals auch das Internet entworfen haben und die danach streben, eine neue Welt und diese Erfahrung aufzubauen.

MW: Das Internet gibt uns die Möglichkeit, mit Andersdenkenden leicht in Kontakt zu treten. Hätte es einen großen Unterschied gemacht, wenn das damals schon möglich gewesen wäre?

RL: Wir haben damals ohne Technik genau diese Erfahrung gemacht. Jeder war mit jedem zutiefst verbunden, und wir nannten das – zu Recht, wie ich finde – Liebe. Eine allumfassende Liebe von allen, zu allen und zu allem – auch zu den Dingen. Das war eine enorme Kommunikation, die weit mehr war als die heutige, technisch ermöglichte durch das Internet. Das Internet ist, da es technischer und materieller ist, eine abgeschwächte Nachbildung davon. Aber das Internet wird nicht in dieser Beschränktheit, die es noch darstellt und mit der es schon die meisten Leute überfordert, verbleiben. Es wird über die Beschränkung hinaus bis in diese Art der Kommunikation gehen, die wir hatten, die völlig untechnisch, viel geistiger, viel effektiver war.

MW: Anhänger bestimmter Ideologien gehen gewissen Situationen aus dem Weg. So etwas gibt es im Internet oft nicht, da man nicht erkennt, welcher Ideologie das Gegenüber angehört. Wenn ich mit jemandem im Internet ein Spiel spiele, weiß ich nicht, wie er politisch denkt, wodurch ganz neue Verknüpfungen entstehen. Hattest du das so im Sinn, wie ich das gerade beschrieben habe?

RL: Genau so. Alles, was die Kommunikation erschwert hat – Geschlecht, Sozialisation, Kultur -, spielt keine Rolle mehr. Jenseits all dieser Dinge können wir heute miteinander in einer sich unheimlich steigernden Form kommunizieren. Das war auch damals der Fall. Es gab nichts mehr, was uns daran hinderte, uns zu lieben. Die intensivste und stärkste Kommunikation ist Liebe. Liebende kommunizieren so unendlich viel, dass sie irgendwann mit einander verschmelzen. Diese starke Kommunikation ist jenseits von Zweierbeziehungen, Familie, Kulturen, Geschlechtern angesiedelt und funktioniert.

MW: Ich beobachte im Internet, dass das Problem von damals im Netz wieder entsteht: Menschen unterteilen sich in ihre eigenen, geschlossene Grüppchen, die sich gegenseitig anfeinden. Wie soll man diese Grüppchen dazu bringen, miteinander zu kommunizieren und nicht nur untereinander?

RL: Ich finde diese Grüppchen, diese Blasen, sind nicht so geschlossen, wie ihnen immer unterstellt wird. Es heißt, sie schlössen sich alle ab, kommunizierten nicht miteinander, verstärkten sich noch – und von den Algorithmen werde ihnen alles geschickt, was zu ihnen passt, und alles andere gemieden. Inzwischen haben wir schon festgestellt, dass es nicht stimmt, aber wir sind noch in dieser alten Kommunikation, in der wir uns voneinander absetzen.

MW: Aber das Schwierige ist ja, die Blasen sind offen, sie sind wie aus Glas. Man kann herausschauen und die anderen Blasen sehen. Aber man erkennt immer nur jene Dinge aus den anderen Blasen, die am Rand, die groß und laut sind und nicht das Kleine, das Innere. Man muss irgendwie diese Blasen öffnen und ausbreiten, damit man eine Sicht auf das Ganze hat.

RL: Aber das passiert ja auch am Beispiel von Facebook: 2,2 Milliarden Freunde sind eine Riesenblase. Da sind viele kleine Blasen schon längst in einen ansatzweisen Kontakt miteinander getreten und fühlen sich als Gemeinschaft und nicht als unendlich viele verfeindete Blasen. Wir werden uns sicher noch weiter kommunikativ entwickeln, aber vorher verbleiben wir in den alten Mechanismen, in denen der andere komisch ist, mit dem ich nicht reden kann.

MW: Die Schwierigkeit, die ich sehe, ist, dass sich diese Grüppchen momentan noch weigern, aufeinander zuzugehen. Sie distanzieren sich vielmehr voneinander. Solange das so ist, kann es keine Utopie in dem Sinne geben.

RL: Das ist falsch. Wenn du beispielsweise auf eine große Gemeinsamkeit zugehst, passiert zunächst eine unglaubliche Ausdifferenzierung. Jeder ist Individuum und stellt ein dem anderen fremdes, unbekanntes Eigenes dar. Nach diesem Schritt, wenn du tief in dich rein guckst und ganz ich bist, wirst du sehr wohl sehen – diese Erfahrung habe ich nicht mit dem Internet aber mithilfe von spirituellen Techniken gemacht -, dass du mit allen eins bist. Diese starke Ausdifferenzierung, wenn keiner mit dem anderen etwas zu tun hat und jeder für sich blasenmäßig durch die Gegend schwebt, ist der Schritt vor dem großen Erkennen: In dir sind alle, du bist alle und eins mit allen.

MW: Aber das passiert ja auch nur, wenn jeder sich als Individuum und nicht als Anhänger einer Gruppe sieht.

RL: Das sind alles Individuengruppen, und in Gruppen schaut man bereits ein bisschen über das Individuelle hinaus und erkennt, dass man mit einigen Leuten halbwegs gut kann. Das Nächste wird dann sein, dass man sich mit mehr und mehr Leuten eins fühlen kann. Ich glaube schon, dass die Entwicklung so ist, und habe es auch so erlebt. Ich habe mich auch von allen Leuten abgeschlossen und gesagt, ich gehe einen Weg, den ohnehin keiner versteht. Als Autist, der das extreme Für-sich-Sein auch schon angeboren bekommen hat. Später habe ich, vor allem 1968, die wesentliche Erfahrung gemacht, dass ich bin wie alle, wenn sie nicht dieses alte Spiel der abendländlichen Kultur von der individuellen Abtrennung betreiben. (Rainer Langhans (RL), Moritz Weinek (MW), 18.5.2018)