Der Höhepunkt der Revolte von 1968 in Österreich war keine Straßenschlacht wie in Paris oder Berlin, sondern eine künstlerische "Aktion", die als "Uniferkelei" in die Geschichte einging.

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Günter Brus bei einer Vorläuferaktion 1967 im Porrhaus.

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Der Höhepunkt des "Revolutionsjahres" 1968 in Wien war keine Straßenschlacht wie in Paris oder Berlin, sondern ein künstlerisches Happening im Hörsaal 1 des Neuen Institutsgebäudes (Nig) der Universität.

Unter dem Titel "Kunst und Revolution" traten die aktionistischen Künstler Günter Brus, Otto Muehl, Peter Weibel und Oswald Wiener auf: Unter Absingen der Bundeshymne und Schwenken der Staatsfahne wurde onaniert, defäkiert und schockiert. Die Aktionisten wurden von den anwesenden Journalisten, etwa Michael Jeannée, als "Uniferkelei" der Volkswut und der Staatsgewalt preisgegeben. Brus, Muehl und Wiener kamen in U-Haft. Brus und Muehl erhielten Haftstrafen. (Muehl wurde viel später wegen Kindesmissbrauchs verurteilt). Der Geisteszustand der Künstler wurde durch den NS-Euthanasie-Psychiater Heinrich Gross als gerichtlichem Gutachter beurteilt.

Heute sind Brus, Weibel und Wiener international bekannte Kunststars. Jeannée hält in der "Krone" nach wie vor die Fahne des "gesunden Volksempfindens" hoch und wird zu seinem 75er von Kanzler Sebastian Kurz und Bald-Bürgermeister Michael Ludwig geehrt.

War es das mit 1968? War da mehr in Österreich vor fünfzig Jahren? Ist etwas geblieben von der "Revolution"?

Eindeutig ja. Nämlich ein Bruch mit dem muffigen, autoritären, provinziellen Österreich der Nachkriegsjahre in Richtung Modernität und Offenheit. Das ist die Antwort aller "68er", die für diesen Artikel befragt wurden, aber auch von Historikern wie Oliver Rathkolb.

Deswegen will ja die Neue Rechte, die jetzt in Österreich an der Macht ist, eine "konservative Konterrevolution" gegen die 68er-Ideen (Norbert Nemeth, Klubdirektor der FPÖ im Parlament und Mitglied der rechtsextremen Burschenschaft Olympia).

Herbert Kickl, Innenminister und Ideologe der FPÖ, liefert eine Kampfansage: "Diese Regierung steht für einen offensiven Gegenentwurf. Das Bedürfnis nach Orientierung, Geborgenheit und Heimat wird von uns wieder in ein positives Licht gerückt." Eigentlich ein großes Kompliment, das die Neue Rechte da einer angeblich gescheiterten Revolution macht.

Internationale Revolte

1968 war ja nach Meinung der Soziologin und "68erin" Marina Fischer-Kowalski "neben 1848 die einzige wirklich internationale Revolte. Sie reichte von Lateinamerika und die USA über Europa bis nach Japan." Es war ein "Sprung im Zeitgeist", meint Peter Huemer, ehemals Innovator im ORF ("Club 2").

Aber Österreich war anders. Rathkolb, Chef des Instituts für Zeitgeschichte an der Uni Wien: "Im Unterschied zu Frankreich, Deutschland und den USA war 1968 bei uns nicht wirklich ein eruptives, von gewaltsamen Auseinandersetzungen getragenes Ereignis, sondern ein schleichender Prozess. Es bestand ein Bedürfnis, die verkrusteten, autoritären Strukturen, vor allem an den Universitäten, endlich aufzubrechen. Aber die österreichischen Studenten demonstrierten ein bissl mit Krawatte und Anzug. Wo es wirklich eruptiv wird, das ist die künstlerische Avantgarde, da geht es wirklich ans Eingemachte mit der berühmten Uniferkelei."

Natürlich war da mehr, nämlich Demonstrationen, Sit-ins, Teach-ins, Hörsaalbesetzungen, endlose theoretische Diskussionen. Es gab so etwas wie ein "High2 der Gemeinschaftsaktion: "Untergehakt im Laufschritt in Fünferreihen die Rotenturmstraße hinauf – das bläst dir das Hirn weg", erinnert sich Peter Huemer selbstironisch.

Aber die im Vergleich zu den Gewaltausbrüchen in Paris und Berlin harmlosen Demos und Aktionen genügten, um die österreichischen Autoritäten in Panik zu versetzen. Ein knallvolles Audimax, auf dem Podium ein buchstäblich zitternder Rektor, der von deutschen Importradikalen wie Bernd Rabehl (heute Rechtsextremer) zerlegt wurde.

"Wir sind uns manchmal recht revolutionär vorgekommen, aber so wirklich waren wir das nicht", sagt Peter Kowalski, damals ein bekannter Feuergeist, heute Sektionschef in Pension (Unterrichtsministerium). "Aber es war der große Bruch mit der damaligen österreichischen Gesellschaft. Ich habe jetzt gerade den Film über den Fall Murer gesehen, das zeigt die damalige österreichische Realität." Franz Murer war ein NS-Massenmörder, der bei seinem Prozess in Graz unter Verhöhnung der jüdischen Zeugen und unter dem Jubel des Publikums freigesprochen wurde. "Wir haben protestiert. Das war nicht revolutionär, sondern anständig."

Unvorstellbar rückständig

Die utopischen Vorstellungen von einer Neuorganisation der Gesellschaft platzten schnell. Arbeiterselbstverwaltung, Basisdemokratie: "Wir haben gedacht, wir haben direkten Zugang zu den Arbeitern, aber als wir beim Streik der Arbeiter des Elin-Werks solidarisch sein wollten, haben die uns gehaut" (Peter Kowalski).

Auch der "Antiimperialismus" war von gigantischer Blindheit: Man berief sich auf die "MaoBibel" und übersah die Millionen Toten durch die Versuche Maos, den "neuen Menschen" zu schaffen.

Aber das war weit weg. Wichtig war die konkrete gesellschaftliche Situation zu Hause, und die war für heutige Generationen unvorstellbar rückständig. In der Einführungsvorlesung Psychologie machte sich der berühmte Professor Rohracher über Sigmund Freud lustig. Homosexualität war strafbar, ein deswegen verurteilter Student wurde in der Aula mit vollem Namen ausgehängt. Das Familienrecht stammte aus dem Allgemeinen bürgerlichen Gesetzbuch von 1811. Theoretisch konnte der Mann der Ehefrau verbieten, den Führerschein zu machen, grundsätzlich hatten Patriarchen das Recht auf ihrer Seite.

Die Studentenführer waren übrigens klassische Machos. "Von Frauenbefreiung war bei denen keine Rede", erinnert sich Marina Fischer-Kowalski. "Das musste mittendrin gemacht werden. Die Frauen haben keine großen Reden geschwungen, sondern im Hintergrund die Dinge organisiert. Die Frauensolidarität hat sich da herausgebildet." Huemer: "Der naive Ansatz der Studenten war: Wenn die Sexualität befreit ist, dann ist der ganze Mensch befreit."

Der Autor Peter Turrini erzählt von seinem ersten Gruppensex damals: "Es war misslungen und schön." Die Muehl-Kommune mit ihrer Missbrauchspraxis unter dem Titel "Befreiung" verließ er bald: "Ich wollte meine Qualen an der Kunst und nicht an den Menschen abarbeiten."

Veränderter Umgang mit Kindern

Der klerusnahe Psychiater Raphael Bonelli warf jetzt im ORF den 68ern vor, sie seien "in der Pubertät steckengeblieben, denn sie müssen ständig gegen etwas sein, obwohl sie schon Jahrzehnte das Establishment erobert haben".

Aber wenige Jahre nach '68 kamen die praktischen Maßnahmen der großen gesellschaftspolitischen Reformen der ersten sozialdemokratischen Alleinregierung unter Bruno Kreisky: Familienrechtsreform, Strafrechtsreform, Bildungsreform durch neue Hochschulgesetze, Schülerfreifahrten und Gratisschulbücher.

"Das ist genau die Lücke, in die Kreisky hineinstieg", sagt Rathkolb. Der SPÖ-Kanzler war ein Gegner der 68er, fing aber gleichzeitig das gesellschaftliche Bedürfnis nach Veränderung auf – und brachte es 1970 genau dorthin, wo der Bedarf war: bei Jungwählern, Erstwählern, bei den Frauen, in kleinen Gemeinden. "Das sind jene Gruppen, die von den autoritären Strukturen am stärksten unterdrückt waren."

"Eine entscheidende Veränderung war der Umgang mit Kindern", urteilt Fischer-Kowalski. "Das ist wirklich geblieben und hat einen Riesenunterschied gemacht. Das antiautoritäre Moment hat die Sozialisationsbedingungen von Kindern nachhaltig verändert. Der schiere Autoritarismus und die Gewalt gegen Kinder haben sich stark verringert."

"Die Familien- und Sexualstrafrechtsreformen von Kreisky hätte es ohne die 68er nicht gegeben", sagt Gerfried Sperl, früherer STANDARD-Chefredakteur und damals Chef der Hochschülerschaft Graz. Sperls "Aktion" war übrigens der Beleg dafür, dass Österreich 1968 nicht nur links, sondern auch bürgerlich-katholisch- liberal war. Die Forderung der Grazer Studenten: Die "kostümierten" Burschenschaften müssen von den Feierlichkeiten an den Unis verschwinden .

"Am stärksten geblieben von 1968 ist die Hochschulgesetzgebung", sagt Sperl. Mitbestimmung, Drittelparität, Schluss mit der Herrschaft der Ordinarien.

Demokratisierung

Und die "Durchflutung aller Lebensbereiche mit Demokratie" (Kreisky). Der Gedanke, dass man Autoritäten infrage stellen kann, sogar erfolgreich, dass Hierarchien nicht gottgewollt sind, dass es eine Liberalität des Denkens gibt – "dieser Gedanke hat Österreich massiv verändert", ist Peter Kowalski überzeugt. Eine Rolle dabei spielte für Peter Huemer die "Demokratisierung" durch den neuen ORF, einfach durch intensive Berichterstattung.

Ist eine neue Revolution am Horizont? Derzeit nicht, sagen alle. Eine Umfrage, die Rathkolb gemeinsam mit dem Sora-Institut gemacht hat, zeigt sogar einen Schub in Richtung autoritäre Einstellungen. "Momentan kämpfen auch gut Ausgebildete in prekären Verhältnissen um ihre Zukunft. Aber wenn ihnen das Wasser bis unter die Nase reicht, dann werden sie sich schon rühren." (Hans Rauscher, 21.5.2018)