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Rettung durch die Jungfrau Maria und ihre Engel: Die zeitgenössische Interpretation des Prager Fenstersturzes wurde von Graf Wilhelm von Slavata zwei Jahre nach diesem folgenreichen Ereignis in Auftrag gegeben.

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Diese Darstellung des Prager Fenstersturzes wurde im Theatrum Europaeum von Matthäus Merian dem Älteren im Jahr 1635 erstmals publiziert.

Illustr.: Johann Philipp Abelinus

Eigentlich heißt Fenster auf Tschechisch ja "okno" – genau wie in einigen anderen slawischen Sprachen. Bloß wenn es um Fensterstürze geht, an denen die Prager Geschichte wahrlich reich ist, muss plötzlich ein Wort lateinischen Ursprungs her: "Defenestrace" sagen die Tschechen dann, also Defenestration. Ganz so, als sollte damit um jeden Preis die gesamteuropäische Relevanz der Ereignisse betont werden.

Die Historie ist bekanntlich ein Ort nachträglicher Bedeutungszuschreibung, und so ist auch die Nummerierung der Prager Fensterstürze umstritten. Einigkeit herrscht lediglich über den ersten: Ende Juli 1419 stürmten Anhänger des vier Jahre zuvor beim Konzil von Konstanz auf dem Scheiterhaufen verbrannten Kirchenreformators Jan Hus das Neustädter Rathaus, um Gesinnungsgenossen zu befreien – und defenestrierten dabei den Bürgermeister und mehrere Ratsherren. Der Vorfall gilt als Auslöser der Hussitenkriege.

Mehr als 60 Jahre später, im September 1483, spielten sich in den Rathäusern der Altstadt, der Neustadt und der Kleinseite ähnliche Szenen ab. Wieder ging es um Glaubensfragen, die stets auch Fragen der Machtpolitik waren, um die Eucharistie in beiderlei Gestalt, wie sie die Hussiten pflegen, wenn sie aus dem Kelch "das Blut Christi" trinken, und um Auseinandersetzungen innerhalb der Stadtverwaltung. Ein Krieg folgte damals jedoch nicht, das Ereignis geriet im historischen Bewusstsein weitgehend in Vergessenheit. Manche Historiker bezeichnen es dennoch als den Zweiten Prager Fenstersturz und widersprechen damit der gängigen Darstellung, die diesen erst auf 1618 datiert. Also auf das Jahr jenes Fenstersturzes, der am Anfang des Dreißigjährigen Krieges stand – und damit am Anfang des ersten gesamteuropäischen Konflikts.

Umfangreiche Rekatholisierung

Diese Katastrophe, die in der Folge den europäischen Hochadel ebenso in den Abgrund stürzen sollte wie die Bauernschaft, nahm ihren Ausgang am 23. Mai 1618. Am Vormittag kamen drei Männer im Burggraben des Prager Hradschin gerade so mit dem Leben davon. Auf ihrer Flucht krachten ihnen Gewehrkugeln um die Ohren, nachdem sie einen 17-Meter-Sturz aus einem Fenster halbwegs heil überstanden hatten.

Was war geschehen? Die Ursache der geschichtsträchtigen Defenestration liegt eine Weile zurück: Sechs Jahre zuvor war Kaiser Rudolf II. verstorben, der den böhmischen Protestanten im Majestätsbrief von 1609 Religionsfreiheit zugestanden hatte. Sein brüderlicher Nachfolger Matthias allerdings hielt wenig von dieser Vereinbarung – im Gegenteil: Er ließ immer mehr Protestanten aus den königlichen Diensten entlassen und förderte damit den Einfluss der Katholiken am böhmischen Hof. Als am 6. Juni 1617 Erzherzog Ferdinand zum König von Böhmen gewählt wurde, eskalierte die Situation: Ferdinands umfangreiche Rekatholisierungsmaßnahmen in Böhmen, die die Rechte der Stände maßgeblich einschränkten, führten zu einem empörten Protestschreiben der adeligen böhmischen Protestanten an den Kaiser – und der verbot daraufhin jegliche Standesversammlungen.

Die böhmischen protestantischen Stände waren verständlicherweise nicht erfreut. Am 23. Mai 1618 zogen rund 200 ihrer Vertreter unter der Führung von Heinrich Matthias von Thurn zur Prager Burg, wo ein improvisierter Schauprozess seinen Lauf nahm. Was dann geschah, mag politische, religiöse und auch individuelle Beweggründe gehabt haben. Letztlich aber löste es einen Krieg aus, der in den folgenden drei Jahrzehnten weite Teile Europas verheeren sollte.

"Wundersame" Rettung

Fakt ist, dass auch eine persönliche Kränkung diesem Prager Fenstersturz – und damit einem kontinentalen Konflikt – zugrunde lag: Graf Heinrich von Thurn war zuvor die Funktion als Burggraf von Karlstejn entzogen worden, nachdem er sich bei der Abstimmung für den neuen böhmischen König gegen den Habsburger Ferdinand entschieden hatte. Das Amt des Burggrafen von Karlstejn war freilich außerordentlich symbolträchtig. Immerhin war er so auch für die böhmischen Kronjuwelen verantwortlich.

Damit mag es wohl kein Wunder sein, dass er den erzkatholischen Jaroslav von Martinic, seinen vom Kaiser bestimmten Nachfolger, aus einem Fenster der Prager Burg warf – gemeinsam mit Wilhelm Slavata von Chlum und Koschumberg sowie dem Kanzleisekretär Philipp Fabricius von Rosenfeld. Dass ein Misthaufen ihren Sturz gebremst und damit ihr Leben gerettet hat, dürfte ein anekdotischer Mythos sein. In zeitgenössischen Berichten wird ein solcher jedenfalls nicht erwähnt.

Ihr Überleben verdanken die drei Herren vermutlich eher der damaligen Mode, dem kühlen Wetter und statischen Prinzipien: Ihre schweren Mäntel und die für die damalige Zeit typischen schrägen Burgmauern dürften schlimmere Verletzungen verhindert haben. Die katholische Seite freilich hatte keinen Zweifel daran, wer die Männer letztlich gerettet hat: Niemand anderer als die Heilige Jungfrau Maria persönlich und ihre Engel griffen ein und bewahrten die katholischen Herren vor dem sicheren Tod, den die gottlosen Protestanten für sie vorgesehen hatten. Sein glückliches Schicksal, vermeintlich bedingt durch höhere Fügung, ließ Graf Wilhelm von Slavata zwei Jahre später in einem für die frühbarocke Zeit typischen Votivbild für die Nachwelt in üppiger Weise festhalten.

Als von Slavata sein kunterbuntes Bild malen ließ, nahmen die Folgen seines Fenstersturzes bereits ihren fatalen Lauf: Im November 1620 verloren die böhmischen Stände am Weißen Berg bei Prag unter Führung von Christian I. von Anhalt die erste große Schlacht des Dreißigjährigen Krieges gegen die kaiserlichen und bayerischen Truppen der Katholischen Liga. Friedrich V., Pfalzgraf und Kurfürst von der Pfalz, kaum mehr als ein Jahr König von Böhmen – womit er sich den Spottnamen "Winterkönig" einhandelte -, musste fliehen und gab so den Weg frei zur von Kaiser und Papst erhofften Rekatholisierung Europas.

Spurensuche in der Gegenwart

Der 1648 geschlossene Westfälische Friede gilt bis heute als Ausgangspunkt der Entwicklung von Völkerrecht und souveränen "Nationalstaaten". Inwieweit sich seine Spuren nach weiteren Einschnitten wie etwa dem Wiener Kongress 1815 oder den Katastrophen des 20. Jahrhunderts im Detail identifizieren lassen, ist Gegenstand vieler Debatten. Gleiches gilt für die Rolle der Nationen im geeinten Europa von heute – erst recht in der Fenstersturzstadt Prag.

Sowohl sprachlich als auch religiös seien die böhmischen Länder zur Zeit des Dreißigjährigen Kriegs ein sehr heterogenes Gebilde gewesen, sagt der tschechische Historiker Pavel Kolář, Professor am European University Institute in Florenz, zum STANDARD: "Es war eine supranationale Entität. Das wird heute oft vergessen." Geblieben sei allerdings die Idee von Böhmen als Mikrokosmos europäischer Konflikte – und ein darauf fußendes kollektives Bewusstsein, das zwischen europäischer Öffnung und Abschottung oszilliert, zwischen Nationalstolz und scheuem Rückzug. "Angesichts diverser Bedrohungen, etwa durch Kriege, kann natürlich auch die Öffnung negativ konnotiert sein", so Kolář.

Tatsächlich scheinen sich heute Selbstvergewisserung und Selbstironie meist die Waage zu halten, wenn im alltäglichen tschechischen Sprachgebrauch immer wieder der "böhmische Kessel" auftaucht: Eingebettet zwischen Erzgebirge, Riesengebirge und Böhmerwald umgibt er die Hauptstadt Prag, im 14. Jahrhundert Sitz von Kaiser Karl IV. und der von ihm gegründeten Universität, der ersten nördlich der Alpen. Jenseits des "Kessels" liegen Österreich, Deutschland und Polen. "Wir sind so selbstverständlich ein Teil von Europa, dass wir es oft gar nicht mehr sehen", brachte es ein ehemaliger tschechischer Diplomat auf den Punkt, Botschafter der ersten Stunde nach der Samtenen Revolution 1989.

Skepsis gegenüber Religionen

Das gescheiterte Aufbegehren gegen die katholischen Habsburger und deren anschließende 300-jährige Vorherrschaft dürften auch in der weitverbreiteten Skepsis gegenüber Religionen insgesamt ihren Ausdruck finden. Tschechien zählt heute zu den atheistischsten Ländern der Welt. Bei der letzten Volkszählung 2011 machten 45 Prozent der Bürgerinnen und Bürger gar keine Angaben zur Religion, 34 Prozent bezeichneten sich explizit als nicht religiös. Zum römisch-katholischen Glauben bekannten sich nur zehn Prozent. Auch eine gewisse Skepsis gegenüber weltlichem Machtpathos scheint damit einherzugehen. Eine religiöse Unterlegung politischer Führungsästhetik wie in Polen oder Aufmärsche uniformierter Garden wie in Ungarn wird man in Tschechien kaum antreffen.

Andererseits ist die Meistererzählung vom ureigenen, vermeintlich pragmatischen Zugang zur Politik, der sich an den Problemen im Hier und Jetzt abarbeitet und nicht an Heilsvorstellungen im Jenseits oder Diesseits, auch eingebettet in ein isolationistisches Narrativ vom Kampf gegen Bevormundung "von außen" – gegen Wien (Habsburger), Berlin (Nazi-Besatzung) und Moskau (Kommunismus). Dass sich auf Basis solcher Simplifizierung kaum brauchbare Parallelen ziehen lassen, ändert nichts daran, dass manche Politiker gerne noch Brüssel an das vorläufige Ende der Erzählung setzen – demokratisches Beitrittsreferendum hin, Mitbestimmung in der EU her. (Thomas Bergmayr, Gerald Schubert, 23.5.2018)